Das ist keineswegs per se falsch, aber es ist eben auch nicht immer richtig. Denn mit dem häufigen Gebrauch der „sozialen Marktwirtschaft“, gern in Sonntags- und Jubiläumsreden, geht eine Überforderung einher: Die soziale Marktwirtschaft soll alles sein und können, vor allem die Lösung vieler Probleme. Sie soll die Verteilung von Einkommen und Vermögen gerechter machen, die Probleme einer immer globaler wirtschaftenden Welt minimieren und die um sich greifende Unsicherheit auflösen, welche Effekte die zunehmende Digitalisierung unserer Welt auf Beschäftigung und Wohlstand in unserem Land hat.
Dabei kommt mir zu kurz, dass es sich bei der sozialen Marktwirtschaft gerade nicht um eine bestimmte Politik und damit um vordefinierte Maßnahmen aus einem Instrumentenkasten handelt; sondern nur – was aber gerade ihren Charme ausmacht– um ein Leitbild für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Und zwar um ein Leitbild, das sich auf das Substantiv und nicht zuerst auf das Adjektiv des Zwei-Wort-Begriffs konzentriert: auf die Marktwirtschaft. Die war in den Wirren des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit abgelöst worden durch staatlichen Interventionismus, zunächst in der Kriegswirtschaft des Deutschen Reichs unter den Nationalsozialisten, dann in der Not nach Kriegsende.
Und dann begann, mit der Währungsreform und der Einführung der D-Mark am 21. Juni 1948, eine Phase mit marktwirtschaftlichen Lösungen – angefangen auf dem Währungsmarkt mit einer frei eintauschbaren D-Mark, die quasi über Nacht für volle Ladenregale und zufriedene Kunden sorgte. Schlange-Stehen war nicht mehr. Die Marktwirtschaft zog nach und nach ein in Deutschland, und in der jungen Bundesrepublik gab es Wachstum und Wohlstand: Das Wirtschaftswunder begann.
Die soziale Komponente war Ludwig Erhard von Anfang an wichtig. Aber nicht, indem der Staat massiv umverteilt, sondern indem der Staat sich dafür einsetzt, darauf zu achten, dass es bei aller Marktwirtschaft auch sozial und gerecht zugeht: etwa durch ein leistungsorientiertes Steuerprinzip, das Ende unternehmerischer Kartelle und, nicht zuletzt, einen verlässlichen Geldwert. Schließlich steckte das Elend der Inflation den Deutschen noch in den Knochen.
Die Stärke des Wettbewerbs erreichte die Menschen: Bis heute hat sich die Kaufkraft des Durchschnittsverdieners pro Arbeitsstunde vervielfacht: In fünf Jahrzehnten stieg der Durchschnittslohn um den Faktor elf, die Preise um den Faktor vier.
Es ist höchste Zeit, das Wettbewerbsprinzip als ureigenen Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft wieder mehr in Erinnerung zu rufen. Nur so nämlich finden die „richtigen“ Innovationen den Weg zur Serienreife. Nur so erhalten Kunden Produkte und Dienstleistungen, die ihren Erwartungen entsprechen. Nur so können Kunden mit ihrem Kaufverhalten beeinflussen, was langfristig angeboten wird und was nicht.
Der Nachweis, dass eine von Parteizentralen vorgegebene und zentral gelenkte Produktion sowie ein vordefiniertes Warenangebot den Kundenerwartungen in gleicher Weise entsprechen könnten, ist in der Wirtschaftsgeschichte nur sehr selten gelungen – und wird es auch in Zukunft nicht einfach haben. Auf dem Markt, im Wettbewerb gibt es die Anreize und Signale, die Innovatoren zu erfolgreichen Unternehmern machen. Deshalb fordern wir im BDI stets das Prinzip der Technologieoffenheit, zum Beispiel auch in der Energie- und in der Verkehrspolitik.
Auch in der Steuerpolitik besteht erheblicher Bedarf, an die Leistungsfähigkeit zu erinnern: 1,4 Billionen Euro Steuern nimmt der Bund in der laufenden Legislaturperiode ein – und will gerade einmal zehn Milliarden Euro an die Steuerzahler zurückgeben, nämlich einen Teil des Solidaritätszuschlags, allerdings nicht vor dem Jahr 2021.
Der Europäische Binnenmarkt hat den Verbrauchern in der EU Ausgaben von Hunderten von Milliarden Euro erspart. Besonders eindrucksvoll ist dieser Trend auf den Telekommunikationsmärkten zu beobachten, die wir Verbraucher inzwischen für einen Bruchteil ihrer ursprünglichen Preise zur Sprach- und Datenkommunikation nutzen. Diese Entwicklung wurde zu einem der Motoren für digitalen Wandel.
Diese Feststellung halte ich gerade heute für zentral – in einer Zeit, in der wir Europäer mit unserer offenen Marktwirtschaft zunehmend eingeengt werden zwischen chinesischem Staatskapitalismus und den unter Donald Trump protektionistischer werdenden USA.
China verkündet sogar eine neue Ära eines Sozialismus chinesischer Prägung. Die Partei erhebt den Anspruch auf umfassende Kontrolle aller Gesellschafts- und Wirtschaftsbereiche, der Staatssektor wird wieder gestärkt, Ideologie spielt abermals eine herausgehobene Rolle. Dem industriepolitischen Masterplan „made in China 2025“ zufolge sollen chinesische Unternehmen durch immense Förderprogramme zu weltweiten Technologieführern in Schlüsselindustrien aufsteigen.
Diese Interventionen werden langfristig zu neuen problematischen Überkapazitäten und ineffizientem Wirtschaften führen – und allenfalls kurzfristige Erfolge haben. Kapitalismus mit sozialistischer Planung und Härte zu verbinden, das unterdrückt langfristig die enormen Wohlfahrtseffekte einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung. Bei allem Respekt vor den ökonomischen und technologischen Leistungen Chinas: auf dem Weg in das 21. Jahrhundert sollten wir Freiheitsoptimisten bleiben. Es wäre falsch, wegen dieser Konkurrenz unser erfolgreiches Modell zu verändern.
Übrigens sind Anreize und Signale auch auf dem Arbeitsmarkt wichtig: Sie machen klar, wo ich mich weiterbilden, welchen Schwerpunkt ich in meiner Ausbildung setzen oder wohin mich am besten meine nächste berufliche Station führen sollte. Dass unser Arbeitsmarkt gut funktioniert, ist erkennbar am Beschäftigungsrekord in unserem Land – auch bei sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen. Dennoch sollten wir allerhöchstes Interesse haben, diesen Mechanismus zu bewahren. Zu viele Interventionen würden den Arbeitsmarkt schnell aushebeln.
Das alles ist aber keinesfalls ein Plädoyer für eine Art Manchester-Kapitalismus. Es ist wichtig und richtig, dass unser Sozialstaat die Menschen schützt, sie im Krisenfall auffängt, ihnen in schwieriger Zeit hilft, wieder auf die Beine zu kommen, ihnen eine faire Chance der Teilhabe gibt. Die Staatsquote in unserem Land liegt bei 44,5 Prozent nahezu auf dem Niveau des EU-Schnitts, ein Drittel des Bundeshaushalts fließt für soziale Ausgaben – Woche für Woche fast drei Milliarden Euro. Das ist richtig – soweit wir dabei die marktwirtschaftlichen Prinzipien weiter beachten und sie nutzen, um für Effizienz und Fortschritt sorgen.
Davon werden wir alle profitieren. Wir sollten den Begriff der sozialen Marktwirtschaft nicht auf- und überladen, sondern ihn als Leitbild quer durch alle Themenfelder verstehen. Ludwig Erhard hätte sicherlich nichts dagegen gehabt, wenn wir dabei die eine oder andere seiner Begriffsdefinitionen in unsere heutige Sprache übersetzen und auf unsere heutigen Erfordernisse anpassen. Ihm war wichtig, den Wohlstand in unserem Land zu vergrößern – und genau das sollte auch unser Ziel sein.