„Es sind nur noch wenige Wochen bis zum Brexit – und wie dieser aussehen soll, weiß immer noch niemand. Die britische Politik darf Entscheidungen nicht auf die lange Bank schieben. Die Optionen liegen auf dem Tisch. Es wäre absurd, wenn das Vereinigte Königreich in vier Wochen in einen harten Brexit schlittert, den doch selbst eine Mehrheit im Parlament in London ablehnt.
Eine Zustimmung Londons in letzter Minute bedeutet lediglich die Chance, die Kosten für Europa zu reduzieren – insbesondere für das Vereinigte Königreich. Klar ist: Ein gedeihliches künftiges Verhältnis gäbe es nach einem Austritt mit einer Übergangsphase nur mit einem Abkommen über die künftigen Beziehungen. Im Minimum ist ein sehr anspruchsvolles Freihandelsabkommen erforderlich.
Sollte die britische Regierung im März keine Mehrheit im Unterhaus finden, ist es an der Zeit, den Austrittsprozess zu stoppen. Das ist besser, als in einen ungeordneten Austritt mit massiver wirtschaftlicher Beschädigung zu stolpern.
Dies gilt sinngemäß für eine gleichartige Situation wenige Wochen später, falls London eine Fristverlängerung beantragen sollte und dies im Europäischen Rat Zustimmung fände.
Auch wenn kein Unternehmen das will: Es ist für sie aktuell ohne Alternative, sich auf ein ungeordnetes Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU am 29. März vorzubereiten.
Bleibt die Frage, wie unsere Unternehmen mit einem ungeordneten Brexit in der Praxis zurechtkommen.
- Die kurze Antwort darauf lautet: Keiner weiß es ganz genau.
- Die lange Antwort lautet: Zwar können Notfallmaßnahmen auf Seiten der Unternehmen und der Politik die schlimmsten Auswirkungen abmildern. Die Wucht, die ein harter Brexit entfaltet, werden wir trotzdem deutlich spüren.
Bundesregierung und Europäische Kommission schnüren zur Zeit Gesetzespakete, mit denen sie die schwersten Folgen eines harten Brexits zeitlich und materiell etwas abfedern. Wichtig ist, dass der Bundestag und die europäischen Gesetzgeber die fälligen Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorkehrungen zügig verabschieden. Nur so lässt sich die vom Brexit betroffene Wirtschaftstätigkeit ab dem 30. März zumindest auf einem Minimalniveau aufrechterhalten.
Keineswegs lösen diese Notfallmaßnahmen jedes Problem in der Praxis. Das wäre unmöglich. Denn die Maßnahmen ersetzen
- weder den Binnenmarkt
- noch das ausgehandelte Austrittsabkommen
- oder ein echtes Freihandelsabkommen.
Ab dem 30. März wird es gravierende Änderungen geben. Bürger und Unternehmen werden wenige Tage nach dem Austritt sehr schnell Konsequenzen für Handel, Produktion und Beschäftigung zu spüren bekommen.
Zum einen stellen sich die Unternehmen auf lange Wartezeiten am Zoll ein. Es wird Grenzkontrollen geben, wie wir sie mit Drittstaaten außerhalb der EU haben.
Unternehmen müssen versuchen, perfektionierte Just-in-time Prozesse in der Produktion von heute auf morgen anzupassen. Es ist mit Störungen und Verzögerungen zu rechnen. Lagerhaltung ist praktisch nur sehr begrenzt möglich. Viele Waren haben eine kurze Halbwertzeit – zum Beispiel Lebensmittel für britische Supermärkte, die in Lagern auf dem Kontinent aufbewahrt werden. Ein bisschen mehr Lagerhaltung bringt in diesen Fällen wenig.
Zum anderen gibt es dringenden Handlungsbedarf bei Chemikalien, denn diese können ohne Zulassung überhaupt nicht genutzt werden. Insbesondere für die mehr als 1.000 Stoffe, die bisher ausschließlich in Großbritannien registriert wurden, müssen Unternehmen sicherstellen, dass eine EU-Genehmigung vorliegt. Sonst dürfen Unternehmen die Produkte, die diese Stoffe enthalten, nicht mehr herstellen. Dies betrifft alle Industriebranchen.
Sie können sich vorstellen, dass die Gefahr für die britische Wirtschaft um ein Vielfaches größer ist als für die Lage auf dem Kontinent und auch in Deutschland. Obwohl noch gar nicht eingetreten, wirft der Brexit seine dunklen Schatten voraus.
Landete das Vereinigte Königreich bei den deutschen Exporten 2017 noch auf Rang vier, reichte es 2018 nur noch für Rang fünf. Im Ein- und Ausfuhren zusammenfassenden Ranking unserer Handelspartner sackte es von Platz fünf auf Platz sechs. Kommt es nun zu einem harten Ausstieg, rutscht das Vereinigte Königreich nahezu mit Sicherheit in eine Rezession.
Auch an Deutschland würde ein harter Brexit nicht spurlos vorbeigehen. Wenn es ganz dick kommt, rechnen wir mit einem Rückschlag für die deutsche Wirtschaft in der Größenordnung von mindestens einem halben Prozent des BIP. Das wären rund 17 Milliarden Euro weniger Wirtschaftskraft allein in diesem Jahr.
Der Anteil des Vereinigten Königreichs am deutschen Außenhandel beträgt etwa fünf Prozent. Gut eine halbe Million Arbeitsplätze in Deutschland sind direkt und indirekt mit dem Export ins Vereinigte Königreich verknüpft. In vielen Unternehmen wird es daher Probleme mit der Produktion und Beschäftigung geben.
Unternehmen in den Branchen Automobile und Zulieferer, Chemie und Pharmazie sowie in der Luft- und Raumfahrt sind ausgesprochen hart betroffen. Hier sind die Wertschöpfungsketten international besonders integriert.
Viele Unternehmen könnten zudem nicht mehr aus der Produktion im Vereinigten Königreich in die Partnerländer, mit denen die EU ein Freihandelsabkommen unterhält, zu bisherigen Konditionen liefern. Dabei wird auch die Anrechnung britischer Wertschöpfungsanteile in Endprodukten in der EU in dieser Hinsicht ein Problem.
Verständlich, dass sich unsere Unternehmen nur sehr ungern ein klares Bild über die konkreten Auswirkungen eines harten Brexits auf ihr Geschäft gemacht haben. Doch sie mussten es tun – und feststellen: Bei allem Frust über den Brexit offenbart er auch, wie viele Vorteile uns Europa, uns die EU bietet. Wir haben ein fundamentales Interesse, den Binnenmarkt und die erreichte Harmonisierung nicht zu gefährden.
Wir bedauern das bevorstehende Ausscheiden des Vereinigten Königreiches. Egal wie es ausgeht: Es wird keine Gewinner geben. Der Brexit bleibt ein hoffnungsloses Projekt, in dem es vieles zu verlieren gibt – und nichts zu gewinnen. Das gilt für einen harten Brexit umso mehr. Hoffen wir, dass sich diese Einsicht doch noch in London durchsetzt.
Für unsere Unternehmen ist klar: Die EU muss die Integrität des Binnenmarktes und faire Wettbewerbsbedingungen – neudeutsch: ein level playing field – in jedem Fall erhalten. Die Grundprinzipien und Errungenschaften der europäischen Integration sind zu wertvoll, als sie zur Disposition zu stellen.
Deshalb appellieren wir an die Bundesregierung und die Europäische Union, auf den letzten Metern Kurs zu halten: Die oberste Priorität muss weiterhin auf der Einheit der EU-27 und des Europäischen Wirtschaftsraums liegen.
Die vier Grundfreiheiten sind in der Praxis untrennbar, und sie können es auch nicht in der Politik sein. Das gilt für die Übergangsphase genauso wie für ein künftiges Verhältnis danach. Rosinenpicken darf nicht funktionieren. Europa ist für uns eben nicht das Problem, sondern die Lösung vieler Probleme.