„Europa steht vor der Jahrhundert-Aufgabe, der Welt zu beweisen, dass ein klimaneutraler Industriekontinent möglich ist. Wenn uns das gelingt, werden wir Nachahmer finden. Die braucht es unbedingt, denn ein europäischer Alleingang im Klimaschutz hilft dem Weltklima nicht weiter. Der Zwischenbericht des Weltklimarats IPCC verdeutlicht noch einmal den Handlungsdruck auf alle großen Treibhausgas-Emittenten weltweit, sich auf weitere gemeinsame konkrete Schritte zum Klimaschutz zu einigen. Auf der bevorstehenden UN-Klimakonferenz in Glasgow sollte sich die internationale Politik auf ein konkretes Regelwerk zur Umsetzung des vor sechs Jahren beschlossenen Pariser Abkommens einigen.
Zugleich ist auf europäischer und nationaler Ebene Tempo gefragt bei der konkreten Umsetzung der Klimaziele – auch in Deutschland. Das Ziel Klimaneutralität ist überaus anspruchsvoll, doch aus technologischer Perspektive grundsätzlich erreichbar: Die Industrie kann und wird passende Antworten geben, wenn sie die nötige politische – und, sind wir ehrlich, auch die finanzielle – Unterstützung und den Rückhalt in der Gesellschaft hat, die sie dafür braucht. Die Industrie ist nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung. Wenn sich klimaneutrales Wirtschaften auch für die einzelnen Unternehmen rechnet, werden wir diese gewaltige Transformation bewältigen.
Zum Umsetzen der Klimaziele gehören neben technischem Können, mutigen Innovationen, ausreichenden Kapazitäten und viel Geld unbedingt auch gesellschaftlicher Konsens und richtige Rahmenbedingungen. Und es geht nicht nur um eine nationale Perspektive, sondern um Weltklima, Weltwirtschaft, globalen Handlungswillen und globale Wettbewerbsfähigkeit.
Wenn wir Ausweichbewegungen in andere Regionen mit weniger strikter Regulierung verhindern und faire Wettbewerbsbedingungen sicherstellen wollen, dann wäre der Einstieg in ein internationales System konsistenter CO2-Bepreisungen ein zielführender Schritt. Im kommenden Jahr hat Deutschland die G7-Präsidentschaft – und die künftige Bundesregierung damit die Chance, andere große Industrieländer ebenfalls zu klimapolitisch ambitioniertem Handeln zu bewegen.
Es ist zu hoffen, dass die neue Aufbruchstimmung in den USA, der Impetus einer neuen Bundesregierung und der Green Deal in der EU sich gegenseitig verstärken und zu einem Momentum führen, das sich in einem nächsten Schritt auf die G20 und insbesondere auf das Schlüsselland China ausweiten lässt. Dafür müssen nationale und europäische Pläne konsistent sein. Sonst entstehen zusätzliche Reibungsflächen. Bereits unter idealen Bedingungen betrugen die nötigen kumulierten Mehrinvestitionen zur Erreichung einer 95-prozentigen CO2-Reduktion bis 2050 für Deutschland gemäß der BDI-Klimapfadestudie 2018 rund 2,3 Billionen Euro, mittlerweile sprechen wir aber über 100 Prozent Reduktion schon bis 2045. „Ideale Rahmenbedingungen“ meint hier vor allem eine gute internationale Kooperation beim Klimaschutz. Driften Minderungsziele und CO2-Preise international aber immer weiter auseinander, führt das zum Verlust von Wertschöpfung und Arbeitsplätzen in Deutschland.
Klar ist, dass ohne einen sehr viel stärkeren Ausbau der erneuerbaren Energien das klimaneutrale Europa eine Wunschvorstellung bleibt. Wind- und Sonnenenergie sind eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für klimaneutrale Energieversorgung überall und zu jeder Zeit. Aufgrund der Volatilität von Wind- und Sonnenenergie ist Wasserstoff als Transport- und Speicherlösung eine ideale Ergänzung: Für eine klimaneutrale Energieversorgung muss daher ein Schwerpunkt auf die schnelle Entwicklung einer Wasserstoffwirtschaft gelegt werden.
Insbesondere die deutsche Industrie wird für ihren Transformationsprozess auf große Mengen an klimaneutralem Wasserstoff angewiesen sein. Dafür muss Deutschland den Zugang zu Wasserstoff möglichst diversifizieren. Allein hierzulande werden bei allen ambitionierten Ausbauplänen nicht genügend Kapazitäten für erneuerbare Energien zur Verfügung stehen, um den inländischen Bedarf an CO2-freiem Wasserstoff abzudecken. Das darf niemanden wundern: Deutschland importiert heute mehr als 70 Prozent seines Brutto-Energiebedarfs und bleibt zwangsläufig auch in der Zukunft Netto-Energieimportland. Deshalb bedarf es eines zügigen Aufbaus strategisch kluger internationaler Partnerschaften. Die im Klimaschutzgesetz neu gesteckten Klimaziele sehen den beschleunigten Hochlauf eines Wasserstoffmarktes vor. Im Klartext: Schluss mit dem Klein-Klein, jetzt müssen wir gerade im Wasserstoffbereich mutiger, größer und vor allem globaler denken.
Der klimaneutrale Industriestandort Deutschland wird nur dann gelingen und internationale Nachahmer finden, wenn unsere Unternehmen die Dekarbonisierung bewältigen und dabei global wettbewerbsfähig bleiben. Deutsche und europäische Klimaschutzlösungen können und müssen zum Exportschlager werden. Die Industrie wird mit ihren Technologien ihren Teil dazu beitragen, die Klimaneutralität zu erreichen. Zum Erfolg sind aber Weitsicht, Verlässlichkeit und Rationalität der deutschen Klimapolitik ebenso wichtig. Darin muss sich die Politik in der kommenden Wahlperiode beweisen.“