Der diesjährige TDI steht unter dem Motto „Scaling the New“ –Technologieführerschaft und Innovation allein reichen nicht, wir müssen sie auch in der Breite zum Kunden bringen, müssen erfolgreich skalieren – idealerweise weltweit. Das ist die Erfolgsbasis für zukünftigen und nachhaltigen Wohlstand im Industrieland Deutschland.
Innovationen sind aber auch entscheidender Bestandteil ganzheitlicher Sicherheit und Voraussetzung für die Überwindung der Krisen unserer Zeit. Wie entscheidend dies ist – nicht nur für die Industrie, sondern für unser Land, für unsere Gesellschaft – das haben wir am 24. Februar schmerzlich begreifen müssen: Als Präsident Putin mit dem Beginn seines brutalen Angriffskriegs gegen die Ukraine den Minimalkonsens der zivilisierten Welt verlassen hat.
Seitdem mussten alle ihr Weltbild korrigieren, die dachten, Grenzen gewaltsam verschieben zu wollen, das sei in Europa ein für alle Mal vorbei.
Der Ukraine unsere Solidarität zeigen, das leistet die deutsche Industrie einmal dadurch, dass sie uneingeschränkt die Politik der Bundesregierung und das Sanktionsregime unterstützt.
Aber Solidarität zeigt sich auch dadurch, dass Unternehmen Verantwortung übernehmen: Der BDI und etliche tausend Unternehmen sind Teil der Initiative „Wirtschaft hilft“. Wir bieten Arbeits- und Ausbildungsplätze für Geflüchtete. Wir helfen mit Geld, Sachspenden, Rat und Tat. Wir bieten Sprachkurse an und fördern die Integration. Weltbild korrigieren, das heißt auch: die Auswirkungen einer Zeitenwende für das Industrieland zu reflektieren – mit schmerzhaften Ergebnissen.
Die vielzitierte Friedensdividende, sie war Wunschdenken. Massive Abhängigkeiten als Preis für Kostenvorteile und Skaleneffekte zu akzeptieren – das war genauso falsch wie der Verzicht unseres Landes auf eigene hinreichende Investitionen in seine Verteidigungsfähigkeit. Wir haben uns die Feuerwehr gespart, weil wir das Brandrisiko für vernachlässigbar gehalten haben. Jetzt brennt es lichterloh.
Für die konjunkturellen Aussichten bedeutet das nichts Gutes. Dabei bremsen nicht nur die vielfältigen Auswirkungen des Krieges dringend notwendiges Wachstum aus. Den Unternehmen machen immer noch die Auswirkungen der Pandemie zu schaffen, allen voran die fragwürdige Null-Covid-Strategie Chinas, die den weltweiten Handel lähmt.
Auch der Außenhandel wird durch die bestehenden Lieferengpässe erheblich beeinträchtigt. Der Auftragsbestand in der Industrie ist auf Rekordhoch, auch die Kapazitätsauslastung ist hoch. Doch die noch immer bestehenden Produktionsbehinderungen aufgrund von Lieferengpässen führen dazu, dass die Unternehmen ihren Auftragseingang nicht in Umsatz verwandeln können.
Die Material- und Lieferengpässe haben sich weiter verschärft. Noch ist nicht absehbar, ob und wann sich diese Situation entspannt. Die Nachwirkungen der inzwischen aufgehobenen Lockdowns in China in Form von Produktionsstaus und gestörten Lieferketten dürften in den Sommermonaten noch zu spüren sein. Und wenn das Vertrauen in weiteres Wachstum kippt, ob wegen einer harten Landung der US-Konjunktur oder wegen steigender Zinsen und Kapitalkosten, dann verdüstern sich die Konjunkturaussichten schnell und bremsen die Investitionstätigkeit aus.
Und last but not least – die Kostenbelastungen bei Energie und Rohstoffen: Sie schnüren den Unternehmen immer mehr die Luft ab, nicht nur in den energieintensiven Branchen. Die stark gestiegenen Preise für Energie und Rohstoffe heizen die Inflation an – das spüren die Bürgerinnen und Bürger. Vor allem leiden darunter diejenigen, die sich wenig leisten können. Es spüren aber auch viele Unternehmen.
Die andauernden Unsicherheiten lassen den BDI seine Wachstumsprognose senken: Die reale Wirtschaftsleistung wird im laufenden Jahr nur um rund 1,5 Prozent steigen. Zu Jahresbeginn waren wir noch von einer BIP-Zunahme von etwa 3,5 Prozent für das laufende Jahr ausgegangen. Voraussetzung für die 1,5 Prozent ist allerdings, dass russisches Gas weiterhin Westeuropa erreicht. Die Reduzierung russischer Gasexporte besorgt uns. Eine Unterbrechung hätte katastrophale Folgen für die produzierende Industrie und würde unsere Wirtschaft in die Rezession schicken.
Wir rechnen mit einem Anstieg der Exporte von Waren und Dienstleistungen von gerade einmal 2,5 Prozent. Auch das ist deutlich weniger als zu Jahresbeginn (4,5 Prozent).
Eine Erholung im Sinne einer Rückkehr zum Vorkrisenniveau ist frühestens zum Jahresende zu erwarten – ganz abgesehen davon, dass uns dann noch immer drei Jahre Trendwachstum fehlen.
Der Krieg hat die Achillesferse des Industrielandes aufgedeckt: die Versorgungssicherheit für Energie, Rohstoffe und Basistechnologien. Sie muss garantiert sein – zu jeder Zeit, für Bürgerinnen und Bürger genauso wie für Unternehmen.
Die Zeitenwende verlangt den politischen Entscheidern und der Verwaltung mehr Tempo ab – nicht zuletzt bei der Gestaltung von vernünftigen Investitionsbedingungen. Neben hohen Energiepreisen und hohen Steuern ist es eine analoge, oft umständliche und langsame Verwaltung, die Investoren abschreckt – und Wachstumschancen verspielt. Ein moderner Staat reduziert Komplexität und Bürokratie. Deshalb ist die Regel „one in, two out“ richtig und wichtig – in der Praxis sehen wir davon nichts.
Die Langsamkeit der Vergangenheit trifft uns jetzt doppelt: beim Klimaschutz und bei der Entkopplung von Energieträgern aus Russland. Die Energiewende muss deshalb beschleunigt und neu justiert werden: Manche Brücken werden deutlich teurer und sollten deshalb kürzer werden.
Deutschland muss sich endlich von lähmenden Klein-Klein-Debatten und Blockadehaltungen verabschieden und beim Erneuerbaren-Ausbau runter von der Bremse. Politik und Verwaltung müssen schleunigst den Turbo einschalten für die Ausweisung neuer Flächen für Windkraft- und Solarkraftanlagen. Die Stromerzeugung aus Wind ist die mit Abstand wichtigste Quelle von erneuerbaren Energien in Deutschland.
Kurzfristig müssen wir die Prioritäten neu ordnen:
Jetzt Vorrang für das Füllen der Gasspeicher, statt Gas zu verstromen; also jetzt notgedrungen mehr Strom aus Kohle, damit wir zum Winter volle Gasspeicher haben und damit Versorgungssicherheit gewährleisten können.
Viel schneller als bisher den Ausbau von Wind- und Solaranlagen und Stromtrassen, die diese mit den Verbrauchern verbinden, umsetzen – insbesondere durch schnellere Genehmigungen.
Jetzt neue Bezugsquellen sichern, wie es die Bundesregierung im Verbund mit den Energieversorgern energisch tut.
Die Infrastruktur für Flüssiggas ausbauen, schnell und gleichzeitig zukunftssicher, weil vorbereitet für die Wasserstoffwirtschaft, um akute Versorgungsnot abzuwenden und Investitionen anzugehen, die langfristig sowieso erforderlich sind.
Wir brauchen einen global wettbewerbsfähigen Strompreis. Die Abschaffung der EEG-Umlage genügt nicht. Auch die Stromsteuer und die Netzentgelte müssen deutlich sinken. Auf dem Tag der Industrie vor einem Jahr hat Olaf Scholz einen Industriestrompreis von vier Cent pro Kilowattstunde als sinnvoll bezeichnet. Noch immer zahlen Unternehmen bis zu 18 Cent – Tendenz steigend. Wir haben die Aussage des Bundeskanzlers nicht vergessen.
Die Auswirkungen einer Zeitenwende für ein Industrie- und Exportland zu reflektieren – das bedeutet für uns in den Unternehmen und in der Politik auch: Abschied zu nehmen von scheinbaren Gewissheiten.
Selbstverständlich können fairer Handel und Investitionen Positives in anderen Ländern und Gesellschaften bewirken – dafür haben wir gute Beispiele. Aber dass sich dadurch politische und gesellschaftliche Ordnungen ändern, ist kein Automatismus – in autokratischen Systemen entscheidet die Führung über den Wandel.
Zuvorderst ist es Aufgabe der Politik, mit außenpolitischen Instrumenten auf autokratische Systeme einzuwirken. Aber auch Unternehmen haben die Pflicht, in ihrem eigenen Verantwortungsbereich rote Linien zu definieren.
Die Rivalität der Systeme ist Realität – Autokratie gegen liberale Demokratie. Mit China bewegen wir uns zwischen den drei Dimensionen Partnerschaft, Wettbewerb und Rivalität. Dabei hat aktuell die Rivalität deutlich zugenommen. Partnerschaftliche Kooperation wird derzeit in kaum einen Bereich praktiziert.
Eine so exportstarke Industrie wie die deutsche redet sicherlich keiner Blockbildung in der Welt das Wort. Aber wir müssen mit Realitäten umgehen. Und weil wir aus der jüngsten Vergangenheit gelernt haben, gilt es, einseitige Abhängigkeiten zu vermeiden:
Mit Blick auf Rohstoffe durch eine viel breitere Diversifikation unserer Bezugsquellen, aber auch durch Substitution und das Ausschöpfen der Potenziale von Recycling und Kreislaufwirtschaft.
Durch den Ausbau essenzieller Technologiekompetenzen wie der Halbleiterentwicklung und -produktion auf unserem Kontinent. Durch die Diversifizierung unserer Absatzmärkte.
Gegeneinanderstehende Blöcke widersprechen unserer Vorstellung von der Welt. Wenn wir aber in eine Blockbildung gezwungen werden, dann ist die Haltung der deutschen Industrie klar: Wir sind fest im transatlantischen Bündnis verortet. Es gibt für uns keine Äquidistanz im Verhältnis der EU zu den USA und zu China.
Als demokratische Marktwirtschaften haben wir die Chance zum Schulterschluss: zum Beispiel zum Setzen von Standards in strategischen Technologiefeldern. Darin waren sich gestern auf dem Business-7-Treffen der großen Industrieländer alle Wirtschaftsvertreter einig – und wir setzen auf Signale des G-7-Gipfels in Elmau Ende dieser Woche. Unser heutiger Erfolg basiert auf Innovationen von gestern. Die Innovationen von morgen hängen von den Weichenstellungen ab, die heute gesetzt werden müssen – auf Ebene der G7, in der EU und natürlich auch von einer Bundesregierung, die sich selbst „Fortschrittskoalition“ nennt.
Es ist klar, was zu tun ist: Gerade jetzt muss die Politik einen Investitionsturbo einschalten: Dauerhafte Unterstützung für Innovation – inhaltlich genauso wie regulatorisch und finanziell. Aber auch einfache Dinge wie verbesserte Abschreibungsbedingungen sind Bausteine für dringende Investitionen in Klimaschutz, Gesundheitstechnologie und Digitalisierung.
Und die Politik muss alles tun und befördern, was für die Aufrechterhaltung unserer globalen Wettbewerbsfähigkeit notwendig ist. Höhere Steuern wären Gift für die Wirtschaft. Die Industrie als Teil der Gesellschaft muss leistungsfähig bleiben, denn nur ein wirtschaftlich starkes Deutschland, nur ein starkes und geeintes Europa können Autokratien die Stirn bieten.