Endlich wieder eine echte Messe! Ich habe dieser Tage gesagt: „Ich freue mich wie Bolle auf die Hannover Messe“ – und glatt hat es dieser Satz zur Titelzeile gebracht. Aber so ist es auch.
Mit der industriellen Transformation als Leitthema schauen wir endlich wieder gemeinsam in die Zukunft. Seit der letzten echten Hannover-Messe 2019 war es uns wegen der Corona-Pandemie ja verwehrt, im persönlichen Austausch und Miteinander hier zu sein. Über zwei lange, herausfordernde Jahre voller Kompromisse liegen hinter uns – für unser Land, für die gesamte Industrie, aber insbesondere auch für die Messewirtschaft.
Es wurden allein im vergangenen Jahr rund zwei Drittel aller Messen abgesagt. Und von rund 390 geplanten Messen in diesem Jahr mussten bis jetzt 100 vollständig storniert werden. Auf der Hannover-Messe präsentieren sich in diesem Jahr 2500 Aussteller aus 60 Ländern. Das Partnerland Portugal gehört mit 120 Ausstellern, wie zu erwarten, zu den Ländern, die in diesem Jahr am stärksten vertreten sind. Es liegt übrigens auf Platz 26 unserer 239 Exportländer. Das ist beachtlich für ein eher kleineres Land. Portugal rangiert damit vor Handelspartnern wie Kanada oder Australien.
Wir befinden uns in einem schwierigen, bedrückenden und im wortwörtlichen Sinn unsicheren Umfeld. Das menschliche Leid durch den russischen Krieg in der Ukraine und die fortwährenden Brüche fundamentalen Völkerrechts durch Russland markieren die jähe Unterbrechung des gemeinsamen zivilisatorischen Fortschritts – wer hätte das noch vor einigen Monaten im Europa des 21. Jahrhunderts für möglich gehalten?
Ohne Zweifel stehen Politik und Wirtschaft in Europa in der Verantwortung, den Aggressor Russland wirtschaftlich zu isolieren, damit hoffentlich dazu beizutragen, den Krieg zu beenden und unsere Abhängigkeit von russischen Energielieferungen schnellstmöglich zu überwinden. Versorgungsnetzwerke und Lieferketten sind zum Zerreißen gespannt – nicht nur bei Primärenergien und Halbleitern. Noch immer beschäftigen uns das Coronavirus und seine Folgen – akut durch die fehlgeschlagene Null-Covid-Politik Chinas, perspektivisch in der Sorge vor einer neuen Virusvariante im Herbst. All das macht dieses Jahr extrem herausfordernd und schwächt das Wirtschaftswachstum erheblich.
Unter diesen Vorzeichen ist es wahrscheinlich für den ein oder anderen verwunderlich, dass der BDI trotzdem einen Anstieg der Produktion im verarbeitenden Gewerbe im laufenden Jahr in einer Größenordnung von knapp zwei Prozent im Vergleich zum Vorjahr für möglich hält. Ja, es gibt die Chance auf ein Produktionswachstum, sogar in diesem sehr schwierigen Jahr. Doch die Zunahme ist definitiv geringer, als wir uns das vor der russischen Invasion vorgestellt hatten – auch bei den Ausfuhren: Für die deutschen Exporte erwarten wir für 2022 in realer Rechnung einen Anstieg um 2½ Prozent. Im Januar waren wir noch von vier Prozent ausgegangen.
Aber die Betonung liegt auf „möglich“. Denn die Risiken sind immens, deshalb geben wir unsere Prognose in dieser unsicheren Zeit mit Konditionierungen ab: Voraussetzung ist, dass die Lieferkettenprobleme in der zweiten Jahreshälfte merklich abnehmen und dass weiterhin russisches Gas nach Westeuropa kommt; dass also niemand dort den Hahn abdreht und hierzulande niemand ein Embargo beschließt. Um das klar zu sagen: Eine Unterbrechung russischer Gasexporte würde das Wachstum in Europa abwürgen und unsere Wirtschaft in die Rezession schicken.
Eine sichere Energieversorgung ist die Basis für unseren Wohlstand. Sie muss deshalb hohe Priorität haben. Gleichzeitig gilt: Unternehmen wie Regierungen müssen klimapolitische Anstrengungen bei der Sicherung und Diversifizierung der Energieversorgung von Anfang an im Blick haben – kurzfristig vor allem für die Versorgung mit Flüssig-Erdgas, das wir als Brückentechnologie dringend brauchen.
Zugleich müssen der schnellstmögliche Ausbau der erneuerbaren Energien und der Umstieg auf Wasserstoff vorangetrieben werden – durch schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren für die Anlagen selbst, die sie verbindende Infrastruktur in Form von Übertragungsleitungen und Pipelines und für den Umbau der technischen Anlagen in den Unternehmen. Dies wird nur in einem entscheidungs- und umsetzungsbereiten modernen Staat gelingen, der auch hier auf Digitalisierung setzt. Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Wir brauchen viel mehr Tempo für Anlagen und Netze, denn Versorgungssicherheit ist das A und O für den Erhalt unserer wirtschaftlichen Stärke.
„Industrial Transformation“ lautet das Motto der diesjährigen Hannover Messe. Damit diese gelingt, braucht es Rohstoffe: Ohne Rohstoffe keine Industrie 4.0, keine Energiewende, keine E-Mobilität. Wir im BDI befassen und gemeinsam mit den Unternehmen der deutschen Industrie intensiv damit, wie wir unsere Rohstoffbezüge absichern und wesentlich stärker differenzieren können.
Von den 30 Rohstoffen und Rohstoffgruppen, welche die EU als kritisch einstuft, werden momentan zehn hauptsächlich aus China geliefert. Beispiel Gallium, das wichtig ist für Halbleiter in Anwendungen wie Industrie 4.0 oder für das autonome Fahren: Primär-Gallium wird derzeit nahezu ausschließlich in China gefördert – nämlich zu 96 Prozent. Die berühmten seltenen Erden, die wir benötigen etwa für Elektrifizierung und in der Windkraft, werden zu 69 Prozent in China gefördert; die Aufbereitung zum einsatzfähigen Rohstoff erfolgt zu 86 Prozent in China. Übrigens nicht, weil „seltene“ Erden tatsächlich so selten wären, sondern weil es schlicht am kostengünstigen war, sie von dort zu beziehen und dort aufbereiten zu lassen.
Hier ist unser Blick auf das Risiko einseitiger Abhängigkeiten inzwischen deutlich geschärft. Wir setzen deshalb darauf, Lieferketten zu diversifizieren – und sollten dort, wo es möglich ist, auch Deutschland und Europa als Explorations- und Verarbeitungsstandorte nicht ausschließen. Dies kann große ökologische und soziale Vorteile bieten, denn mit einer nachhaltigen Gewinnung und Weiterverarbeitung von Rohstoffen wachsen integrierte Wertschöpfungsketten und hochwertige Arbeitsplätze.
Der BDI setzt weiter auf Globalisierung und weltweite Wertschöpfungsketten – China eingeschlossen. Aber einseitige Abhängigkeiten müssen wir überwinden. Es ist vernünftig, nicht alle Eier in einen Korb zu legen. Nachhaltige Rohstoffversorgung und diversifizierte Bezugsquellen sind als prioritäres Thema für Forschung und Entwicklung am Innovationsstandort Deutschland klar erkannt. Die diesbezüglichen Aktivitäten in Forschungseinrichtungen und Unternehmen verdienen Unterstützung und Förderung durch die Bundesregierung.
Als Technologie der Zukunft steht vor allem Wasserstoff im Fokus der Hannover Messe – wie übrigens schon bei der letzten echten Hannover-Messe 2019. Für die Wasserstoff-Offensive braucht Europa jetzt dringend mehr eigene Elektrolysekapazitäten und gleichzeitig grenzüberschreitende Infrastrukturen, denn wir werden auch als klimaneutrales Industrieland einen großen Teil unseres Energiebedarfs importieren müssen. Deshalb ist es wichtig und richtig, dass Politik und Unternehmen gemeinsam globale Energiepartnerschaften etablieren.
Pragmatismus und flexible Regulierung, ohne das Ziel der Dekarbonisierung aus dem Auge zu verlieren, sind zentral für den Hochlauf des Wasserstoffmarkts. Dann ist die Dekarbonisierung unseres Landes nicht nur eine immense Herausforderung, sondern auch eine riesige Chance.
Bei all dem muss die Industrie als Teil der Gesellschaft leistungsfähig bleiben. Denn nur ein wirtschaftlich starkes Deutschland, ein wirtschaftlich starkes Europa können Autokratien die Stirn bieten und notfalls politisch beschlossene Sanktionen auch durchhalten. Ihren Preis müssen wir tragen können, um unsere Standards und Werte der freien, demokratischen Welt zu verteidigen. Es ist der Preis dafür, dass sich die Stärke des Rechts durchsetzt – und nicht das Recht des vermeintlich Stärkeren.