„Schon viele Ökonomen suchten nach einem Erklärungsmuster, um Gesetzmäßigkeiten für das Auf und Ab wirtschaftlich guter und schlechter Jahre zu finden. Manche erinnerten sich dabei an einen Bibelspruch aus dem Alten Testament, demzufolge auf sieben fette Jahre stets sieben magere Jahre folgen würden.
Im Herbst 2018 scheint es, als habe die robuste deutsche Konjunktur das Prinzip des Propheten Moses endgültig widerlegt: Wir befinden uns mittlerweile im neunten Aufschwungsjahr. Es ist der längste Aufschwung seit dem Jahr 1991. Der Jobmotor Industrie läuft weiter: Ende Juli waren im Verarbeitenden Gewerbe mit insgesamt 5,65 Millionen mehr Menschen als je zuvor beschäftigt.
Gut möglich, dass der Rekordsommer der Konjunktur sogar weiter andauert. Trotzdem muss sich Deutschland auf den Abschwung gefasst machen. Wir müssen vorsorgen – jetzt.
Unsere Stärke ist angreifbar. Auch darauf weisen die aktuellen Zahlen hin – ich möchte nur zwei Aspekte nennen: Die Investitionstätigkeit hat sich abgeflacht. Bei hoher Kapazitätsauslastung und guter Auftragslage ziehen die Ausrüstungsinvestitionen der Unternehmen wieder an, und zwar um sechs Prozent gegenüber dem Vorjahr. Doch von den früher zweistelligen Prozentsätzen ist das weit entfernt. Unsere Exportstärke und der für ein so großes Land mit knapp 50 Prozent ausgesprochen hohe Exportanteil werden immer stärker bedroht.
Zum einen ist die Hochphase der weltwirtschaftlichen Erholung vorbei. Der Außenhandel hat sich längst nicht so schwungvoll entwickelt, wie noch zu Jahresbeginn erwartet. Zum anderen entstehen Risiken für deutsche Unternehmen mit fast jeder protektionistischen Maßnahme – selbst wenn sie sich gegen China richtet. Die Handelspolitik von US-Präsident Trump, aber auch der nahende Brexit dämpfen die Investitionslaune weltweit – und damit das deutsche Exportgeschäft.
Außenwirtschaftliche Risiken gibt es zuhauf. Aus diesen Gründen revidiert der BDI seine Konjunkturprognose von zweieinviertel auf zwei Prozent für dieses Jahr.
Statt eines Zuwachses der Warenexporte von fünf Prozent gegenüber dem Vorjahr erwartet der BDI nur noch ein Plus von 3,5 Prozent in realer Rechnung.
Die Regierung sollte auf diese unguten Vorzeichen dringend reagieren – mit Umsicht und zugleich mit Handlungsstärke in der Wirtschaftspolitik. Was mich wirklich besorgt, ist der Gewöhnungseffekt, der durch die wiederkehrenden Konjunkturrekorde in der Politik eingetreten ist. Nach der Wirtschafts- und Finanzkrise haben sich zu viele in Deutschland an eine dauerhafte Wachstumsphase gewöhnt.
Umso mehr kommt es jetzt darauf an, die Zukunft für Wohlstand und Beschäftigung am Standort Deutschland und in Europa zu stärken: Wir brauchen Wachstumsvorsorge.
Wahlen sind immer irgendwo – ob in Bayern, Hessen oder Europa: Es ist notwendig, Stellung zu beziehen.
In Europa geht es darum, die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion zu vertiefen. 61 Jahre nach Gründung der Europäischen Gemeinschaft muss die rasche Vollendung des Binnenmarkts für Dienstleistungen, Energie und Digitales höchste politische Priorität haben.
In Europa und hierzulande brauchen wir eine mutige, vorwärts gerichtete Politik, die unsere Stärken, Innovationskraft und Weltoffenheit, verteidigt und ausbaut.
Stichwort Weltoffenheit: In unserer Gesellschaft darf Fremdenhass keinen Platz haben. Investitionen ausländischer Unternehmen und die Integration von Fachkräften aus anderen Ländern tragen erheblich zu Wachstum und Arbeitsplätzen bei.
Wir sind eine offene Gesellschaft und wollen es bleiben. Ein angeblich heimatliebender Nationalismus, der alles Fremde zum Feind erklärt, ist falsch – und eine Gefahr für das auf Offenheit basierende Geschäftsmodell unserer Industrie. Und eine Gefahr für Wohlstand und Beschäftigung.
Ebenso erfolglos wird es sein, die Verunsicherung, die es in manchen Teilen unserer Gesellschaft zweifellos gibt, mit noch mehr fehlgeleiteter Sozialpolitik zu bekämpfen. Etwa mit Rentenkonzepten, die unausgegorene Versprechungen zur Rente mit mehr Steuern machen – auf dem Rücken jüngerer Generationen. Oder mit einer Haushaltsdisziplin, die sich zwar öffentlich die schwarze Null zugutehält, aber die Ausgaben des Bundes schneller wachsen lässt als die Einnahmen.
Und natürlich nutzt auch niemandem in diesem Land eine Große Koalition, die sich, nachdem sie in den vergangenen Jahren regelmäßig handfeste außenpolitische Turbulenzen zu bewältigen hatte – Finanzkrise, Griechenland, Ukrainekonflikt –, in der neuesten Auflage vor allem mit hausgemachten Krisen zu beschäftigen scheint.
Wir brauchen eine Politik, die nicht nur verwaltet, sondern beherzt den Kurs unseres Landes bestimmt. Bürger und Wirtschaft verlangen nach einem überzeugenden Staat, der für sie da ist und Angebote für die Zukunft macht: mit einer zielgerichteten Investitionsoffensive gegen bröckelnde Schulen und Straßen sowie für schnelles Internet bis in abgelegene Landkreise. Mit einer digitalisierten und verschlankten öffentlichen Verwaltung, die Bürger und Unternehmensgründer Milliarden einsparen lässt – und ihnen unzählige Stunden in den Wartesälen der Ämter erspart.
Tempo ist ein wichtiges Stichwort. Es muss auch für Regierungshandeln gelten. Eine Regierung im permanenten Selbstgespräche-Modus, das bedeutet Stillstand. Wir brauchen jedoch mehr Tempo in der Politik: Angesichts der Geschwindigkeit, mit der ein irrlichternder US-Präsident bewährte Bündnisse in Frage stellt und Zollspiralen in Gang setzt. Auch angesichts eines immer schärfer werdenden Standortwettbewerbs und eines digitalen Wandels, der in exponentieller Geschwindigkeit nahezu alle Wirtschaftskreisläufe und Lebensbereiche durchdringt. Ein Jahr nach der Bundestagswahl und nach sechs Monaten Große Koalition schauen wir in der Wirtschaft besorgt auf die Uhr. Wir warten ungeduldig auf wirtschaftspolitische Schritte. Konkret in der Steuer-, Digitalisierungs- und Energiepolitik.
Erstens, Steuern: Deutschland entwickelt sich vom Hoch- zum Höchststeuerland, während weltweit – etwa in den USA, aber auch im UK und in Frankreich – die Regierungen munter die steuerlichen Rahmenbedingungen zu verbessern suchen. Und die Bundesregierung schaut dem Treiben tatenlos zu. Das grenzt fast schon an unterlassene Hilfeleistung. Seit zehn Jahren gab es keine nennenswerte Steuerstrukturreform mehr mit Entlastungen für Unternehmen, sondern stattdessen etliche Mehrbelastungen.
Fast ebenso unbefriedigend finden wir die halbherzigen Pläne zur Abschaffung des Solidaritätszuschlags: Hier ist mehr Tempo möglich, auch um die hohe Steuerbelastung der Unternehmen in Deutschland zu senken. Deshalb fordern wir noch in dieser Legislaturperiode für alle Unternehmen den Einstieg in den Ausstieg aus dem Soli.
Ein Lichtblick ist die steuerliche Forschungs- und Entwicklungsförderung: Sie soll – endlich – zum 1. Januar 2020 in Kraft treten. Das ist der Einstieg in eine Forschungsförderung, wie sie in nahezu allen Industriestaaten längst selbstverständlich ist. Völlig unverständlich finden wir es, wenn anstelle ausbleibender Steuerstrukturreformen Vertreter der Bundesregierung die Pläne für eine europäische Digitalsteuer befördern. Das würde unsere Unternehmen mitten im Prozess der digitalen Transformation ihrer Geschäftsmodelle kalt erwischen. Zu einer klugen Finanzpolitik gehört auch, sich rechtzeitig gegen unsinnige neue Steuern stark zu machen.
Zweitens, mehr Tempo bei der Digitalisierung: Auch dort befindet sich die Bundesregierung leider noch in der Findungsphase. Es werden zahlreiche Expertenrunden und Arbeitsgruppen gebildet. Expertenmeinungen einzuholen ist überhaupt nicht falsch. Entscheidend ist, dass in diesen Runden zügig konkrete Maßnahmen entstehen, die sich rasch umsetzen lassen.
Grundvoraussetzung für die Digitalisierung von Staat und Gesellschaft, für Industrie 4.0 sowie auf künstlicher Intelligenz basierender Geschäftsmodelle ist der Netzausbau. Es ist schön, wenn diese Regierung anerkennt, dass beim Breitbandausbau wirklich Eile geboten ist.
Seit drei Legislaturperioden verspricht die Bundesregierung schnelles Internet. Wir erwarten jetzt konkrete Verbesserungen: Bis 2025 müssen Gigabit-Infrastrukturen im Fest- und Mobilfunknetz für alle Unternehmen, privaten Haushalte und entlang der Verkehrswege verfügbar sein. Dies gilt auch für die gut zwei Drittel aller Industriearbeitsplätze, die sich auf dem Land befinden.
Dabei wird ein zwölf Milliarden Euro schwerer Fördertopf allein nicht ausreichen. Gemeinsam mit Bund, Ländern und Kommunen müssen Vergabeverfahren vereinfacht, Baukapazitäten erhöht und Investitionsanreize gestärkt werden. Beim Thema 5G darf es nicht zu Verzögerungen bei der Frequenzversteigerung kommen. Es kommt darauf an, dass die Politik gemeinsam mit Netzbetreibern und Anwenderindustrien zügig konkrete Lösungskonzepte für eine weitgehende Versorgung liefert.
Bei all dem sollte jedoch von Politikern und Unternehmern nicht vergessen werden, dass die Digitalisierung auch Unsicherheiten auslöst. Eine ehrliche Debatte ist notwendig – über die Veränderung von Berufsbildern, den eigenverantwortlichen Umgang mit Daten und die Sicherheit in der digitalen Welt. Dabei sollten wir die immensen Chancen betonen.
Wir sollten die Digitalisierung nicht nur stärker willkommen heißen – wir sollten sie in unserem Land endlich auch gestalten wollen. Die Digitalisierung bietet neue Chancen für flexible Arbeit, verbessert die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, lässt viele neue Tätigkeitsfelder und Chancen auf Teilhabe entstehen – und lässt die Wertschöpfung steigen: Das ist gut für volkswirtschaftliches Wachstum und für Löhne und Gehälter der Beschäftigten. Voraussetzung dafür ist eine umfassende Bildungs- und Ausbildungsstrategie, bei der Politik und Arbeitgeber an einem Strang ziehen.
Drittens, Handlungsstärke wünschen wir uns auch in der Energie- und Klimapolitik.
Sie ist vor allem eines: Standortpolitik. Leider geht das gerade etwas unter. Wir streiten um einen rein national gedachten Kohleausstieg, registrieren Stillstand in der Gebäudesanierung, beobachten einen dramatischen Rückstand im Netzausbau und erleben einen kontinuierlichen Anstieg der Stromkosten. Das ist nicht problemlösungsorientiert, das ist orientierungslos – und schadet unseren Unternehmen, ohne den ehrgeizigen Klimaschutzzielen zu nutzen.
Deutschland muss rasch in einen ganzheitlichen Pfad der klimafreundlichen Modernisierung unserer Volkswirtschaft einsteigen, statt aus einzelnen Technologien auszusteigen. Die Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit – sie bleibt in der deutschen Energie- und Klimapolitik leider riesig. In der Klimapfadestudie, die der BDI Anfang des Jahres vorgestellt hat, haben wir diese Lücke sehr anschaulich beschrieben.
Völlig außer Frage steht, wie wichtig mehr politisches Handeln und stärkere Förderung bei der energetischen Gebäudesanierung sind, etwa durch ein Steuersparmodell, wie es der BDI zusammen mit dem Handwerk, dem DGB und anderen entwickelt hat. Hier muss die Bundesregierung schnellstens einen wirksamen Impuls setzen.
Die deutsche Industrie ist in robuster Verfassung, aber die Konjunktur läuft nicht mehr so rund, wie wir es erwartet haben. Die Politik ist gefordert – sie muss mehr Wirtschaft wagen, insbesondere in der Steuer-, in der Digitalisierungs- sowie in der Energie- und Klimapolitik.“