Die Auflösung des politischen Stillstands in London ist dringlicher denn je – doch danach sieht es nicht aus. Dabei hat die Brexit-Krise das Vereinigte Königreich schon fest im Griff. Die jüngsten Produktionsdaten in der britischen Automobilindustrie sprechen Bände. In diesem ersten Halbjahr sahen wir einen Rückgang von elf Prozent gegenüber dem Vorjahr. Insgesamt ist das gesamtwirtschaftliche Wachstum bereits sehr schwach, die Investoren halten sich zurück.
Auch der Außenhandel zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich ist auf dem Rückzug. Mittlerweile ist das Vereinigte Königreich von Platz fünf im Jahr 2017 auf Platz sieben im Ranking unserer Außenhandelspartner abgerutscht. Italien und Polen haben die Briten seit dem Brexit-Referendum überholt. Schon jetzt verliert das Land im europäischen Vergleich an Bedeutung. In dieser Ouvertüre bewahrheitet sich: Der Brexit trifft uns alle, aber das Vereinigte Königreich ganz besonders.
Umso schwerer fällt es mir, das Handeln der politisch Verantwortlichen in London nachzuvollziehen. Die deutsche Wirtschaft hat Respekt vor der innenpolitisch schwierigen Lage an der Themse. Doch die Unternehmen sehen London in der Pflicht, Führung zu zeigen und die vernünftige Einigung mit der EU umzusetzen.
Wir können keinen Plan erkennen, mit dem die britische Regierung einen No-Deal-Brexit verhindern möchte. Im Gegenteil: Das britische Regierungshandeln wirkt verstörend. Die Entscheidung der Regierung, eine „prorogation“, also einer Sitzungspause des Parlaments, ausgerechnet in dieser kritischen Phase durchzusetzen, sowie die Äußerungen der britischen Regierung zum Brexit in den vergangenen Wochen sind ein Spiel mit dem Feuer.
Es fehlt an einer verlässlichen parlamentarischen Mehrheit für eine Entscheidung in der Sache. Ohne weiteres Zutun droht ein ungeordneter Austritt:
• ohne Abkommen,
• ohne Übergangsphase und
• ohne ausreichende vorbereitende Gesetzgebung im Vereinigten Königreich.
Kurz: Es gibt derzeit keine solide Gesprächsgrundlage. Unseren Unternehmen bleibt daher nur übrig, sich auf einen harten Brexit am 31. Oktober einzustellen. Das ist schmerzlich. Dennoch bleibt für die deutsche Wirtschaft auch in dieser prekären Lage klar, dass:
• die politische und makroökonomische Stabilität in allen Mitgliedsstaaten gewährleistet sein muss,
• die Integrität des Binnenmarktes unantastbar ist und
• die EU-Handelspolitik eigenverantwortlich an den Außengrenzen der Union durchzusetzen ist.
Die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen mit dem Vereinigten Königreich sind der Industrie sehr wichtig. Keinesfalls dürfen diese die internationale Handelsarchitektur gefährden. Denn es steht viel mehr auf dem Spiel als der Handel mit dem Vereinigten Königreich: Es geht darum, den Zugang unserer Unternehmen zu den anderen Teilnehmern im Binnenmarkt langfristig stabil zu halten; und es geht darum, unsere Wirtschaftsbeziehungen zu Drittstaaten außerhalb der EU fair zu gestalten.
Wir wünschen uns, dass die europäische Wirtschaft durch den Brexit möglichst wenig Schaden nimmt. Für unsere Unternehmen am besten wäre das verhandelte Austrittsabkommen. Und lassen Sie mich ausdrücklich hinzufügen: Die deutsche Industrie steht ohne Wenn und Aber hinter dem Backstop als vorläufiger Lösung der Grenzprobleme auf der Insel Irland.
Sollte er tatschlich zur praktischen Anwendung kommen, könnte nur eine funktionierende, dauerhafte Grenzregelung den Backstop dann ablösen. Doch dieses Regime wäre nicht jetzt, sondern in einer Übergangsphase zu verhandeln, welche die Briten und wir dringend brauchen. Zur Erinnerung: Diese Übergangsphase wird es einzig und allein mit dem Austrittsabkommen geben.
Ein No-Deal-Brexit ist das absolut schlechteste Szenario für unsere Unternehmen. In diesem Jahr ist hierzulande nur noch ein geringer Anstieg der realen Wirtschaftsleistung um höchstens 0,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr möglich. Im Falle eines harten Brexits ohne Abkommen droht der deutsche BIP-Zuwachs sogar in Richtung Null zu gehen.
Trotzdem unterstützen wir ganz klar die Verhandlungsposition der EU. Warum? Für die Wirtschaft geht es vor allem um Integrität des Binnenmarkts der EU27 und um den Schutz unserer Interessen gegenüber Drittstaaten – und damit um eine verlässliche Geschäftsgrundlage für viele Geschäftsmodelle als Ganzes. Europa ist unser Heimatmarkt, die Stabilität der EU unsere oberste Zielsetzung.
Sollte London einen weiteren Antrag auf Verlängerung der Frist nach Artikel 50 der Europäischen Verträge stellen, muss klar erkennbar sein, wie die Regierung den Weg aus dem drohenden No-Deal-Drama beschreiten will. Nur in diesem Falle – und bei glaubhafter parlamentarischer Unterstützung – ist eine weitere Verschiebung auch aus unserer Sicht sinnvoll. Es wird keinen Freifahrtschein für London zwecks einer Verschiebung geben. Deshalb sollte kein Entscheidungsträger in der Wirtschaft momentan auf eine weitere Verschiebung des Brexits setzen.
Unsere Unternehmen müssen sich auf ein hartes Halloween einstellen. Vorkehrungen wie Vorratshaltung oder Ersatztransportwege sind jedoch nur begrenzt leistbar. Unsere Unternehmen bereiten sich dennoch vor. Im Februar waren noch 1200 chemische Stoffen nach der EU-Reach-Verordnung ausschließlich im Vereinigten Königreich registriert. Heute sind es nur noch rund 700.
Doch niemand kann sich vollständig auf etwas vorbereiten, wenn unklar ist, welche Regeln am Tag X, vermutlich dem 1. November, im Außenwirtschaftsrecht oder in den Produktgenehmigungen gelten. Extrem besorgt sind wir über den Stand der No-Deal-Vorbereitungen auf der britischen Insel. Stand heute fehlen noch zahlreiche rechtliche Regelungen für horizontale Themen wie Zölle und für bestimmte Sektoren wie die Landwirtschaft. Ob und wann diese Gesetze und Verordnungen seitens der britischen politischen Institutionen auf den Weg gebracht werden, ist völlig offen. Es ist damit zu rechnen, dass in vielen Feldern schlichtweg die Rechtsgrundlagen in den ersten Wochen fehlen werden, sollte es am 1. November notwendig sein. Auch seitens der britischen Wirtschaft sind die Vorbereitungen offenbar nicht flächendeckend erfolgt.
Auch die Frage, wie lange Schlangen an den Grenzen verhindert oder mindestens verringert werden können, bleiben von der britischen Regierung unbeantwortet. Es wäre ein Missverständnis zu meinen, dass selbst die Abschaffung zahlreicher Zollsätze das Problem lösen würden. Behörden und Wirtschaftsakteure müssen trotzdem mit Zollformalitäten zurechtkommen.
An den Außengrenzen der EU müssen die Beamten eine Vielzahl von Regelwerken kontrollieren. Nur so lassen sich die Bürger der EU vor diversen Gefahren zum Beispiel für die Gesundheit oder im Sinne des Verbraucherschutzes schützen, Schmuggel verhindern und die Rechtsstaatlichkeit gewährleisten.
Wir müssen zudem davon ausgehen, dass zahlreiche Transportwege am 1. November nicht richtig funktionieren werden. Die zu erwartenden Verzögerungen werden Störungen verursachen in Just-in-Time-Abläufen genauso wie bei Produkten mit kurzer Haltbarkeit. Im Bewusstsein aller Akteure muss auch sein, dass Datenströme ebenfalls einer veränderten Rechtsgrundlage unterliegen. Anpassungen sind oftmals nötig und dürften nicht vernachlässigt werden.
Die deutsche Politik tut in Sachen Notfallmaßnahmen, was sie kann. Den Unternehmen ist klar, dass Vorbereitungsmaßnahmen für einen No-Deal nicht mit einer Beibehaltung des Binnenmarkts verwechselt werden dürfen. Im Klartext: Wirtschaftlicher Schaden wird also auch mit den besten Notfallmaßnahmen eintreten. Schäden werden sich allenfalls eingrenzen, aber nicht vermeiden lassen. Und um eine Frage vorwegzunehmen: Es wäre mir zu spekulativ, wenn ich bereits heute die Höhe der Schäden benennen würde.
Der Brexit kostet wirtschaftliches Wachstum, er kostet Wohlstand und Arbeitsplätze – und zwar auf beiden Seiten des Kanals. Umso mehr Bedeutung hat jetzt die Umsetzung in den Unternehmen. Wir wissen aus der Arbeit unserer Brexit-Taskforce mit Verbänden und Unternehmen, dass die Vorbereitungsmaßnahmen auf Hochtouren laufen und schon viel Geld gekostet haben. Schadensbegrenzung ist das Gebot der Stunde. Ab dem 1. November gilt dies noch mehr.“