Über die Hast, über die fehlende Folgenabschätzung, über die fehlende Konsistenz der deutschen Klimaschutzgesetzgebung mit europäischen Prozessen ließe sich vieles sagen. Die Verfassungsrichter hatten eine Frist bis Ende 2022 für Schlussfolgerungen aus ihrem Urteil gesetzt. Auf dieser Basis sind unter dem Eindruck des beginnenden Wahlkampfs Beschlüsse getroffen worden, die das Urteil gar nicht nahegelegt hatte.
Klar ist: Egal wie die nächste Bundesregierung sich zusammensetzt, Klimaschutz wird im Mittelpunkt der Agenda stehen, und das Thema wird uns alle noch erheblich beschäftigen: im nationalen, europäischen und globalen Kontext.
Es mag manchen überraschen, aber die notwendigen technischen Lösungen sind im Wesentlichen bekannt. Die Aufgabe ist zwar umfassend, doch aus technologischer Perspektive lösbar: Denn unsere Ingenieurinnen und Ingenieure verfügen über das erforderliche Know-how. Die Industrie kann und wird passende Antworten geben, wenn sie die Freiheit hat, die sie dafür braucht. Ingenieurwissenschaft, technische Innovation und Industrie sind nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung – unter der Voraussetzung, dass sich das unternehmerisch rechnet. Ein „Koste es, was es wolle“ geht auf Dauer nicht.
Zum Umsetzen gehören neben technischem Können, mutigen Innovationen, ausreichenden Kapazitäten und viel Geld allerdings auch gesellschaftlicher Konsens und richtige Rahmenbedingungen. Und da wir über Klimaschutz sprechen und nicht über die Ortsgestaltungssatzung einer einzelnen Gemeinde, geht es nicht nur um eine nationale Perspektive, sondern um Weltklima, Weltwirtschaft, globalen Handlungswillen und globale Wettbewerbsfähigkeit.
Deshalb ist es fundamental wichtig, klimapolitische Ziele, technische Machbarkeit und wirtschaftliche Durchsetzbarkeit im internationalen Zusammenhang zu betrachten. Wenn wir Ausweichbewegungen in andere Regionen mit weniger strikter Regulierung verhindern und faire Wettbewerbsbedingungen sicherstellen wollen, dann wäre der Einstieg in ein internationales System konsistenter CO2-Bepreisungen ein zielführender Schritt. Im kommenden Jahr hat Deutschland die G7-Ratspräsidentschaft. Die künftige Bundesregierung hat damit die Chance, eigene klimapolitische Ambitionen mit der Bereitschaft anderer großer Industrieländer abzugleichen. Es ist zu hoffen, dass die neue Aufbruchstimmung in den USA, der Impetus einer neuen Bundesregierung und der Green Deal in der EU sich verstärken und zu einem Momentum führen, das sich in einem nächsten Schritt auf die G20 und letztlich insbesondere das Schlüsselland China ausweiten lässt.
Deutschland alleine hat aktuell einen Anteil von knapp zwei Prozent an der globalen CO2-Bilanz. Das ist nicht sehr viel, dennoch nicht irrelevant und kein Argument, sich beim Klimaschutz zurückzulehnen. Aber unser Problem ist nicht die Gefahr des Nichtstuns, sondern ineffiziente Symbolpolitik.
Die EU setzt eigene, ebenfalls ambitionierte Ziele und hat angekündigt, im Sommer den europäischen Green Deal zu konkretisieren. Wenn diese Ziele nicht mit den deutschen Plänen übereinstimmen, verlieren wir wieder Zeit und Vertrauen, weil wir eine erneute Abstimmungsschleife drehen müssen. Nationale und europäische Pläne müssen konsistent sein. Andernfalls entstehen zusätzliche Reibungsflächen – und der Mehraufwand gegenüber den vom BDI vor drei Jahren in seiner Klimapfade-Studie berechneten 2,3 Billionen Euro hierzulande wird noch einmal größer als allein wegen der ambitionierteren Ziele des deutschen Klimaschutzgesetzes.
Die Klimapolitik darf die Industrie nicht überfordern. Dem globalen Klimaschutz wäre nicht gedient, wenn die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und europäischen Industrie auf der Strecke bliebe. Wollen wir global Vorbild dafür bleiben, dass Klimaschutz und Wohlstand vereinbar sind, müssen wir im Alltag beweisen, dass und wie es uns gelingt: in der Industrie, aber auch in der Energiewirtschaft, im Verkehr, im Gebäudesektor und in der Landwirtschaft.
Dafür und zum Erreichen der jetzt erneut verschärften Ziele muss die Qualität der Maßnahmen deutlich verbessert und konkretisiert werden. Die notwendigen Investitionen müssen konsequent und zügig angeschoben werden. Technologieoffenheit für unterschiedlichste Optionen und Innovationspfade ist wichtig, also echter Innovationswettbewerb statt staatlicher Reißbrettplanung. Der Staat ist bei Genehmigungsverfahren und dem Ausbau der öffentlichen Infrastruktur – Stromnetz, Gas- und Ladeinfrastruktur – besonders gefordert. Dort muss er das Tempo drastisch steigern.
Wind- und Sonnenenergie sind eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für klimaneutrale Energieversorgung überall und zu jeder Zeit. Als Übergangsenergieträger werden wir mehr Erdgas brauchen – nicht zuletzt wegen der Abschaltung der Kernkraftwerke und des Ausstiegs aus der Kohle. Aufgrund der Volatilität von Wind- und Sonnenenergie ist Wasserstoff als Transport- und Speicherlösung die ideale Ergänzung. Auch hier hat unser Land technologisch und wissenschaftlich viel im Köcher.
Für eine klimaneutrale Stromversorgung muss daher ein Schwerpunkt auf die schnelle Entwicklung einer Wasserstoffwirtschaft gelegt werden. Dafür bedarf es einer klaren Sortierung der Fakten und Erfordernisse:
Erstens: Wie weit trägt die direkte Elektrifizierung? Wie viel elektrische Energie und Leistung brauchen wir dafür?
Zweitens: In welchem Umfang brauchen wir Energiespeicher, um die Volatilität von Solar und Wind zu kompensieren?
Drittens: Wo geht es um die Dekarbonisierung chemischer Prozesse, bei der Wasserstoff Kohlenstoff ersetzen muss – zum Beispiel bei der Reduktion von Eisenerz zu Roheisen?
Viertens: Darüber hinaus müssen erhebliche Mengen erneuerbarer Energie transportiert werden – von den Schwerpunkten des „Energy Harvesting“, also zum Beispiel Offshore-Windturbinen, bis zu den Schwerpunkten industrieller Prozesse entlang der gesamten Wertschöpfungskette, an der Millionen von Arbeitsplätzen hängen. Auch für diese Transportaufgabe wird Wasserstoff eine wichtige Rolle spielen – direkt oder in Wasserstoff-basierten Verbindungen.
Das Spektrum für die Nutzung von Wasserstoff ist vielfältig. Deshalb setzt sich die deutsche Industrie für eine breite Anwendungsoffenheit ein und ist gegen staatliche Vorgaben. Wenn es letztlich darum geht, möglichst effizient CO2 einzusparen, dann stellt sich eine zielführende Priorisierung am einfachsten durch einen konsequenten CO2-Preis ein – allemal schneller als durch staatliche Technologie-Regulierung. Müssen wir dabei drohende soziale und wirtschaftliche Verwerfungen im Blick haben? Ja, absolut. Die müssen wir adressieren – aber nicht deshalb schon vorneweg das Richtige nicht tun.
In ein realistisches Gesamtbild gehören auch einige unbequeme Wahrheiten:
Die deutsche Industrie wird für ihren Transformationsprozess auf große Mengen an klimaneutralem Wasserstoff angewiesen sein. Allein die Grundstoffindustrie dürfte im Jahr 2030 schon 120 TWh Wasserstoff benötigen.
Dafür müssen wir den Zugang zu Wasserstoff möglichst diversifizieren. In Deutschland allein werden bei allen ambitionierten Ausbauplänen nicht genügend Kapazitäten für erneuerbare Energien zur Verfügung stehen, um den inländischen Bedarf an grünem Wasserstoff abzudecken.
Das darf niemanden wundern: Deutschland importiert heute über 70 Prozent seines Brutto-Energiebedarfs und bleibt zwangsläufig auch in der Zukunft Netto-Energieimportland. Deshalb bedarf es eines zügigen Aufbaus strategisch kluger internationaler Partnerschaften. Alle Gedankenspiele an nationale Energie-Autarkie sind bestenfalls Träumerei.
Die nun im Entwurf des Klimaschutzgesetzes neu gesteckten Klimaziele sehen den „beschleunigten Hochlauf“ eines Wasserstoffmarktes vor. Im Klartext: Schluss mit dem „Klein-Klein“, jetzt müssen wir gerade im Wasserstoffbereich mutiger, größer und vor allem globaler denken.
Damit dies gelingt, müssen die notwendigen Rahmenbedingungen richtig gesetzt werden. Vor allem müssen jetzt Investitionsentscheidungen getroffen werden – denn die Produktionsanlagen des Jahres 2045 werden zumindest in der Grundstoffindustrie jetzt entschieden, in den nächsten fünf Jahren realisiert und müssen sich dann über mindestens 20 Jahre amortisieren. Das setzt verlässliche Entscheidungen aus der Politik und ein systemisches Gesamtkonzept voraus.
Damit der Hochlauf entlang der Wertschöpfungskette gelingt, braucht es:
• eine Senkung der Kosten auf der Erzeugungsseite – von Seiten der Industrie durch konsequente Industrialisierung und Hochskalierung der Elektrolysetechnologien, von Seiten der Politik durch konsequente Entlastung des Strompreises, unter anderem von EEG-Umlage und Netzentgelten;
• den Ausbau der Infrastruktur für den Transport von Wasserstoff – und zwar zusammen mit der Planung für Erdgas wegen der zu erwartenden Substitutionseffekte;
• die Motivation der Endverbraucherseite durch effektiv niedrigere Kosten – wieder durch Skalierung und Degression und durch kluge zielgerichtete Regulierung.
Noch eine unbequeme Wahrheit: Wer heute eine Investition für die Nutzung von Wasserstoff entscheiden soll, muss sicher sein können, dass die notwendige Menge an Wasserstoff mit dem Hochlauf der Anlage auch verfügbar ist. Für die Anwendung spielt die „Farbe des Wasserstoffs“ keine Rolle. Der darf – bis hinreichend „grüner“ Wasserstoff verfügbar ist – notfalls auch blau oder türkis, also aus Erdgas synthetisiert sein. Schon der direkte Einsatz von Erdgas senkt beispielsweise bei Reduktion von Eisenerz den CO2-Ausstoß bereits um zwei Drittel. Nur wenn wir das akzeptieren, dürfen wir Investitionsentscheidungen erwarten. Es käme doch auch niemand auf die Idee, Elektromobilität erst dann zu starten, wenn der Strom-Mix zu 100 Prozent aus Renewables kommt. Vielmehr wird E-Mobilität in dem Vertrauen darauf hochgefahren, dass der CO2-Footprint mit höherem Anteil an Renewables immer besser wird. Warum sollten wir beim Wasserstoff-Markt nicht der gleichen Logik folgen?
Die Industrie wird mit ihren Technologien dazu beitragen, dass die Energiewende zum Erfolg und Klimaneutralität möglich wird. Es muss gelingen, bestehende Wertschöpfungsketten zukunftsfest weiterzuentwickeln. Zugleich ist die Industrie des Innovationslands Deutschland mit ihrer Technologie beim Thema Klimaschutz international in einer guten Ausgangsposition, die sie behaupten und ausbauen muss. Das hilft dann doppelt: der Prosperität Industrie- und Exportlandes und den Regionen, in die wir diese Technologien exportieren. Vieles hängt von Weitsicht, Verlässlichkeit und Rationalität der deutschen Klimapolitik ab – und davon, ob die Bundesregierung ihre Chance und ihren Einfluss während der deutschen G7-Ratspräsidentschaft 2022 klug nutzt.