„Die Lage ist schwierig – und die Signale sind nicht mehr zu übersehen, und mit den Ergebnissen der jüngsten Umfrage des BDI unter knapp 600 industriellen mittelständischen Unternehmen können wir nun unsere Einschätzungen belegen:
Fast jedes zehnte mittelständische Industrieunternehmen hat seine Produktion wegen der hohen Energiepreise schon unterbrochen oder gedrosselt. 34 Prozent der Industrieunternehmen sehen in den gestiegenen Energie- und Rohstoffpreisen eine „existenzielle“ Herausforderung – eine „starke Herausforderung“ sehen weitere 58 Prozent.
Was heißt das für den Standort Deutschland? Jedes fünfte Unternehmen denkt darüber nach, die Produktion ganz oder teilweise ins Ausland zu verlagern. Wenn das so kommt, geht ein erheblicher Teil an Wertschöpfung hierzulande verloren. Viele Unternehmen stellen Investitionen in die Umstellung ihrer Produktion auf klimafreundliche Verfahren zurück. Wenn das so kommt, ist der Fahrplan auf dem Weg zur Klimaneutralität kaum noch einzuhalten.
Das Dramatische an diesem schonungslosen Blick in den Maschinenraum der deutschen Wirtschaft ist: Diese Entwicklungen sind nicht anonyme statistische Größen, die Veränderungen sind sehr konkret. Es sind mittelständische Unternehmen, die seit Jahrzehnten zum Bild Deutschland gehören und nun zumindest auch wegen des Anstiegs der Energiekosten in die Insolvenz gezwungen werden.
Mehr als sechs Monate nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine zeigt sich, wie tiefgreifend die Folgen für die deutsche Wirtschaft sind. Drei Einschätzungen aus dem BDI charakterisieren die aktuelle Lage der Wirtschaft:
Erstens, eine Rezession wird mit der BIP-Stagnation im zweiten Quartal immer wahrscheinlicher. Der BDI hat seine Wachstumsprognose gesenkt.
Zweitens, im BDI rechnen wir damit, dass die Energiepreise dauerhaft hoch bleiben. Hoffnung auf schnelle Hilfe ist nicht in Aussicht. Die Industrie-Strompreise für das kommende Jahr sind mittlerweile auf mehr als 70 Cent pro Kilowattstunde gestiegen – mehr als das 15-Fache des Preisniveaus der vergangenen Jahre. Der Gaspreis hat um den Faktor zehn auf mehr als 30 Cent pro Kilowattstunde zugelegt. Die deutsche Industrie zahlt im Großhandel für das kommende Jahr einen Gaspreis, der um den Faktor acht höher liegt als in den USA. Die Konsequenz ist klar: Der Standortwettbewerb wird sich verschärfen, auch für Hightech-Produktionsanlagen.
Drittens, die Akutkrise aus Versorgungsengpässen und rapide steigenden Energiepreisen hat die für unsere Zukunft zwingend notwendige doppelte Transformation aus Dekarbonisierung und Digitalisierung mächtig ins Stocken gebracht.
Soweit die Fakten. Und soweit mein realistischer Pessimismus. Aber in Wirtschaft und Politik gilt: Problembeschreibung reicht nicht, wir müssen in jeder Situation Lösungen suchen – und wir müssen mit der Zuversicht, Veränderung gestalten zu können, an Probleme herangehen.
Die vielzitierte Friedensdividende, sie war Wunschdenken. Massive Abhängigkeiten als Preis für Kostenvorteile und Skaleneffekte sowohl auf den Beschaffungs- wie auf den Absatzmärkten zu akzeptieren – das war genauso falsch wie der Verzicht unseres Landes auf eigene hinreichende Investitionen in seine Verteidigungsfähigkeit.
Das deutsche Geschäftsmodell beruhte auf billiger Energie und einer friedlichen Welt, die fair und nach gemeinsamen Regeln kooperiert. Spätestens seit dem 24. Februar ist es in seinen Grundfesten erschüttert. Ich wiederhole an dieser Stelle bewusst meine Aussage vom Tag der Industrie: Wir haben uns die Feuerwehr gespart, weil wir das Brandrisiko für vernachlässigbar gehalten haben. Jetzt brennt es lichterloh!
Der Krieg hat die Achillesferse des Industrielandes aufgedeckt: die Versorgungssicherheit für Energie, Rohstoffe und Basistechnologien. Sie muss garantiert sein. Die Formel ist simpel: Ohne Energie und ohne Rohstoffe keine Industrie.
Dabei bestimmen Angebot und Nachfrage den Preis. Also ja, Energie sparen, wo es geht, um die Nachfrage zu senken, aber auch mit allen Mitteln Strom produzieren, um das Angebot zu erhöhen. Dabei muss die Bundesregierung Pragmatismus und Vernunft vor Ideologie und Parteiraison stellen.
Zentral sind sofortige Entscheidungen und praktische Schritte für eine möglichst große Verbreiterung des Stromangebots – durch den schnellen Hochlauf von Stein- und Braunkohlekraftwerken, längere Laufzeiten der Kernkraftwerke und die maximale Nutzung der Potenziale erneuerbarer Energien.
Stark betroffene Unternehmen brauchen rasch wirkende Maßnahmen und unkomplizierten Zugang zu angemessenen Hilfeleistungen. Eine De-Industrialisierung dürfen wir nicht riskieren. Die Industrie und die industriellen Dienstleistungen sind mit 30 Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt und rund acht Millionen unmittelbar Beschäftigten ein Eckstein unserer Volkswirtschaft – und des Exportlands Deutschland allemal. Die Industrie ist essenziell in unserem Land.
Hier liegt viel Arbeit vor uns. Und eines haben wir für all das nicht: Zeit. Politik und Verwaltung müssen zwingend beim Tempo zulegen, und zwar massiv. Es braucht eine deutliche Beschleunigung bei allen relevanten Genehmigungen und viel schnellere Entscheidungen der Behörden vor Ort.
Der Gasverbrauch der Industrie lag im Juli um 21 Prozent unter dem Verbrauch des Vorjahresmonats, aber Vorsicht vor falschen Schlussfolgerungen: Das ist kein Erfolg, sondern Ausdruck eines massiven Problems. Dahinter stehen oft keine Effizienzgewinne, sondern ein dramatischer Produktionsrückgang.
Wir müssen Deutschland als Industrieland, Exportland und Innovationsland zukunftsfest machen – mit Innovationen und Investitionen. Wo auch immer ich mit Unternehmerinnen und Unternehmern zusammenkomme, liegt dieser Spirit in der Luft: Wir wollen weitermachen, wollen die Zukunft gestalten. Und deshalb braucht es jetzt Pläne für den langfristigen Erhalt unserer Wettbewerbsfähigkeit. Damit zu warten, bis die Energiekrise gelöst ist, wäre verantwortungslos.
Tempo braucht es auch bei der Digitalisierung. Apple oder Microsoft– jedes dieser beiden Unternehmen ist für sich mehr wert als alle 40 deutschen Dax-Konzerne zusammen. Das macht klar: Deutschland hat digitalen Nachholbedarf.
Unser heutiger Erfolg basiert auf Innovationen von gestern. Die Innovationen von morgen hängen von den Weichenstellungen ab, die heute erfolgen – inhaltlich, regulatorisch und finanziell. Die Politik hat die Aufgabe, alles zu tun und zu befördern, was für die Aufrechterhaltung unserer globalen Wettbewerbsfähigkeit notwendig ist, aber leider höre ich diesen Begriff kaum im politischen Dialog dieser Tage. Die Industrie sieht die Bundesregierung auch in der Pflicht, die öffentliche Verwaltung mit Hochdruck zu modernisieren. Ein moderner Staat ist ein entscheidender Standortfaktor.
Wir alle müssen die Stärke des Rechts entschlossen verteidigen, es ist keine Alternative, das Recht des vermeintlich Stärkeren zu akzeptieren. Freiheit hat einen Preis. Aber der Preis, die Freiheit aufzugeben, wäre um ein Vielfaches höher. Er wäre unbezahlbar. Das meine ich nicht nur ökonomisch, das gilt für unsere persönliche Freiheit ebenso wie für die politische und wirtschaftliche Freiheit.
Auch in dieser turbulenten Weltlage ist die richtig verstandene soziale Marktwirtschaft der beste Weg zur Bewahrung unseres Wohlstands. Der Freiraum für Unternehmen, kreativ und innovativ zu sein, neue Produkte und Prozesse auszuprobieren, Märkte auf- und auszubauen, ist für unser Land in der turbulenten Weltlage noch wichtiger geworden.
Die Verwirklichung des Versprechens der sozialen Marktwirtschaft ist an zwei Bedingungen geknüpft. Erstens, dass die Menschen das System der sozialen Marktwirtschaft verstehen und akzeptieren; zweitens, dass möglichst viele an dieser Marktwirtschaft teilnehmen.
Selten zuvor standen die Pfeiler der sozialen Marktwirtschaft derart unter Druck. Wollen wir an unseren westlichen Werten künftig festhalten? Dann müssen wir die Freiheit der Marktwirtschaft aktiv verteidigen. Die Rahmenbedingungen des internationalen Wettbewerbs haben sich grundlegend verändert durch das Vordringen staatskapitalistischer Modelle.
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat uns gelehrt, dass wir gegenüber autokratischen Staaten besser auf Extremszenarien vorbereitet sein müssen. Das gilt auch Richtung China. Doch im Kontext des neuen Systemwettbewerbs sollten wir die Wirtschaftsbeziehungen zu China nicht grundsätzlich in Frage stellen: „Weniger Abhängigkeit von China“ heißt nicht: „kein China“.
Ausschlaggebend für das Bestehen im Wettbewerb ist es, die Resilienz zu erhöhen, Die EU sollte die Marktöffnung mit anderen Regionen ernster nehmen, es braucht dringend neue Handelsabkommen. Selbstverständlich können fairer Handel und Investitionen Positives in anderen Ländern und Gesellschaften bewirken – dafür haben wir gute Beispiele. Aber dass sich dadurch politische und gesellschaftliche Ordnungen ändern, ist kein Automatismus. In autokratischen Systemen entscheidet die Führung darüber, wie viel Wandel und wie viel Freiheit sie zulassen will.
Zuvorderst ist es Aufgabe der Politik, mit außenpolitischen Instrumenten auf autokratische Systeme einzuwirken. Aber auch Unternehmen haben die Pflicht, in ihrem eigenen Verantwortungsbereich rote Linien zu definieren und konsequente Entscheidungen zu treffen. Nur ein wirtschaftlich starkes Deutschland, nur ein starkes und geeintes Europa kann Autokratien die Stirn bieten.