„Im Versuch, den Brexit und das Handeln Trumps, Putins, Erdogans und Xi Jinpings zu erklären, entdecken politisch Interessierte lang vergessene Begriffe wieder, die im 21. Jahrhundert nicht mehr zeitgemäß erschienen. Das Wiedererstehen von Großmachtrivalitäten und Imperien wird beschworen, die Bedeutung des Nationalstaates erneut verabsolutiert und der Globalisierung ein Ende prophezeit.
Experten befürchten gar das Zuschnappen der Thukydides-Falle – den quasi unausweichlichen Weg in einen Krieg wie jenen im 5. Jahrhundert vor Christi Geburt zwischen Sparta und Athen. Brisant ist: All diese Begriffe und die sie umrankenden Erzählungen haben reale Substanz. Deshalb müssen sich Politik, Öffentlichkeit und selbstverständlich die international besonders aktive deutsche Wirtschaft mit diesem Stoff auseinandersetzen.
In der Tat weckt das Ausgreifen Chinas über die neue Seidenstraße nach Asien, Afrika und Europa Erinnerungen an die Frühphase des Imperialismus im 19. Jahrhundert. Das russische Beharren auf traditionelle Einflussgebiete passt in dieses Erklärungsmuster. Spiegelbildlich unterstellen russische Publizisten der EU und der NATO eine geostrategische Offensive nach Osten mittels Erweiterung der Mitgliedschaft, Partnerschafts- und Assoziierungsabkommen sowie Nachbarschaftspolitiken.
Auch für das Wiedererstarken von Großmachtrivalitäten gibt es ausreichend Anzeichen, nicht nur in den Beziehungen der USA zu China und Russland. Im Nahen Osten streiten Iran und Saudi-Arabien am sichtbarsten um Macht und Einfluss, etwas im Hintergrund agiert die Türkei. Die Rivalität zwischen Indien und Pakistan besteht seit deren Staatsgründung. Und wir Europäer diskutieren offen die Frage, ob die EU selbst eine Großmacht werden müsste – oder sich damit zufriedengeben sollte, der Spielball rivalisierender Mächte zu sein.
Und natürlich erinnert das Verhältnis zwischen den USA und China an die Falle, die der Historiker Thukydides vor fast zweieinhalbtausend Jahren für die Rivalität zwischen Sparta und Athen beschrieben hatte. Seine Ausführungen dazu gelten vielen als Vorlage für die Eskalation des Konfliktes zwischen Großbritannien und Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg: Die aufsteigende neue Großmacht – damals Athen, später Deutschland, jetzt China – fordert „einen Platz an der Sonne“. Es geht um Respekt, internationalen Gestaltungsanspruch und Einfluss. Die etablierte Großmacht – Sparta, Großbritannien, die USA – fühlt sich herausgefordert, fürchtet um Status und Macht. Sie versucht, die aufstrebende Macht zurückzudrängen und einzudämmen. Die Folge sind militärische Großkonflikte.
Auch die Fokussierung auf die Rolle des Nationalstaats hat seine guten Gründe – nicht erst seit der „America-First“-Politik Donald Trumps. Der mehrheitliche Wunsch britischer Bürger „to take back control“ im nun von Brexiteer Boris Johnson regierten Vereinigten Königreich, der erfolgreiche Appell rechtspopulistischer Bewegungen an die nationale Identität der Wähler in vielen Staaten Europas oder die Tatsache, wie leicht sich die Bevölkerung von Autokraten in Russland, der Türkei und China für die nationale Sache mobilisieren lässt: All das beweist die Bindekraft und Attraktivität des Konzepts Nationalstaat.
Zugleich gibt es deutliche Anzeichen, dass die Globalisierung stagniert. Das Wachstum des Welthandels, das diesen Prozess jahrelang entscheidend vorangetrieben hat, ist seit Ende der Finanzmarktkrise deutlich geringer als es das vor 2007/08 war. Statt Ausweitung des Freihandels greifen immer mehr Staaten zu protektionistischen Maßnahmen. Die Organisation Global Trade Alert zählte zwischen 2009 und 2019 weltweit rund 13.700 handelsbeschränkende Maßnahmen gegenüber nur etwas mehr als 5000 handelsliberalisierenden Maßnahmen.
Global agierende Unternehmen, auch deutsche, erwägen die Lokalisierung und Regionalisierung ihrer weltweiten Wertschöpfungsketten. Kontrollen des grenzüberscheitenden Kapitals nehmen zu. Unterdessen sind internationale multilaterale Organisationen wie die Uno, die WTO und der Internationale Währungsfonds in eine Existenzkrise geraten. Derweil unterliegt die Nutzung zentraler Mittel globaler Kommunikation wie von Internet, Facebook und WhatsApp immer mehr nationalen Einschränkungen. Vielerorts wird sie teilweise oder gar ganz geblockt. Die Mittel dazu besitzen nicht nur China und Russland, sondern auch technologisch nachhinkende Staaten, beispielsweise Ägypten und der Sudan.
Dennoch: Trotz ihrer Plausibilität ist es wichtig, die Erklärungskraft dieser Begriffe kritisch zu hinterfragen. Die Notwendigkeit hierfür ergibt sich schon allein daraus, wenn man einen Blick auf jene Begriffe und Erzählungen wirft, die in den vergangenen 30 Jahren unsere Wahrnehmung der internationalen Beziehungen dominiert haben: Da war die Rede vom Ende der Geschichte und vom unipolaren Moment, von Staatszerfall, internationalem Terrorismus und vor allem Globalisierung.
Die wohl einflussreichste Erzählung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts findet sich in Francis Fukuyamas 1992 erschienenem Buch „The End of History and the Last Man“. Die zentrale These: Nach dem Ende der sowjetischen Herrschaft steuere die Welt auf eine universale liberale und demokratische Ordnung zu, in welcher Geschichte nicht mehr stattfinde. Diese These prägte eine ganze Generation von Außen- und Sicherheitspolitikern, aber auch Unternehmern – gerade in Deutschland. Sie setzte sich mit großem Vorsprung gegen die konkurrierende Erzählung des „Clash of Civilizations“ von Samuel Huntington aus dem Jahr 1993 durch.
Ab Ende der 90er Jahre setzte sich der Eindruck fest, das Ende der Geschichte sei zumindest übergangsweise eng verbunden mit dem unipolaren Moment. Das heißt: Eine einzige Supermacht, nämlich die USA, verfügt über den Willen und die Mittel, die globale Ordnung nach ihren eigenen – eben liberalen – Vorstellungen durchzusetzen. Der Begriff des „Moments“ verweist bereits darauf, dass selbst Protagonisten dieser Erzählung hierin nur ein Übergangsphänomen sahen. Tatsächlich dominierten seit Mitte der 90er Jahre Staatszerfall, der Aufstieg nichtstaatlicher Gewaltakteure und des internationalen Terrorismus die Debatte über die internationalen Beziehungen.
Robert Kaplan beschwor 1994 in seinem Artikel „The Coming Anarchy“ ein Bild herauf, in dem Mangel, Kriminalität, Überbevölkerung, Tribalismus und Seuchen das soziale Gewebe unseres Planeten zerstören würden. Nationalstaaten, inklusive die USA, wurden in anderen Beiträgen für unfähig erklärt, diesen Herausforderungen Herr zu werden, und zum Teil als obsolet betrachtet. Es folgten Kontroversen über die Krise des Kapitalismus und der internationalen Finanzwirtschaft, die – mit einem erneuten Zwischenhoch der Terrorismusdebatte – in die eingangs zitierten Erzählungen übergingen.
Dieser Schnelldurchlauf illustriert die kurze Verfallszeit zwischenzeitlich sehr dominanter Erzählungen. Zudem ruft er in Erinnerung, welche Wirkungskraft diese Narrative haben können. Gerade die These vom Ende der Geschichte hat in Deutschland das internationale Handeln einer Generation geprägt, die Schlüsselpositionen in Politik und Wirtschaft ausfüllt. Sie verführte dazu, neue Risiken nicht ausreichend wahrzunehmen – und Handlungsmustern zu folgen, die diese Risiken eher verschärften als minderten.
Dieselben Gefahren drohen, wenn nun nahezu alle Ereignisse in das Erklärungsschema der Großmachtrivalität gepresst werden, wenn der Globalisierung ein Abgesang erteilt oder der Nationalstaat als einzige Kraft idealisiert und legitimiert wird, die den neuen Herausforderungen entgegentreten kann. Der weitere Aufstieg Chinas ist keineswegs zwangsläufig. Auch ist er nicht bestimmt, in einem Konflikt zu enden: Er kann sich in eine multipolare Ordnung mit hoher Stabilität fügen. Schließlich ist die Globalisierung von Kapital und Kommunikation nach wie vor ungebrochen.
Der Nationalstaat ist ein vorrangig europäisches Konstrukt von eingeschränkter universaler Reichweite. Oft war er Ausgangspunkt für die blutigsten Konflikte. Deshalb ist erstaunlich, dass viele, die sich mit Dani Rodriks Globalisierung-Paradox konfrontiert sehen, Freihandel, Demokratie und Nationalstaat seien nicht gleichzeitig zu erreichen, in diesem Entscheidungs-Trilemma den Nationalstaat als gesetzt erachten. Jedoch verlangt die Gewährleistung von Sicherheit und Wohlfahrt durch supranationale Autoritäten nicht zwingend nach nationaler Identität: Viele Imperien leisteten diese über Jahrzehnte, supranationale Gebilde wie die EU könnten in diese Rolle hineinwachsen.
Ohne Zweifel haben politische Erzählungen und die mit ihnen verbundenen Begriffe eine wichtige Funktion: Sie ermöglichen es, komplexe Prozesse zu ordnen, ihnen einen Sinn zu geben und ein breit geteiltes Verständnis über diese Ordnung herzustellen. Sie entwickeln aber eine große Gefahr, jede Beobachtung in ein dominantes Erklärungsmuster zu pressen. Es ist außerordentlich riskant, abweichenden Interpretationen keinen Platz mehr zu lassen und Erzählungen nicht mehr kritisch zu hinterfragen. Wenn Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft sowie die meinungsbildende Publizistik solche Narrative ungeprüft übernehmen, drohen diese leicht zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu degenerieren.“