In dieser Situation ist ohne Zweifel die Politik der Taktschläger. Das gilt für die gemeinsam in der EU und G7 verhängten Sanktionen über Soforthilfe für die Ukraine bis hin zur Verteilung und Erstversorgung der Menschen, die aus dem Kriegsgebiet zu uns fliehen. Gefragt ist aber nicht nur die Politik, sondern sind auch Tatkraft und Kompetenz vieler anderer: Freiwilliger, zivilgesellschaftlicher Akteure, Unternehmen.
Die Unternehmen sind auf vielen Ebenen gefordert. Flüchtlinge integrieren – da ist vieles möglich und schon voll im Gang: In vielen Branchen gibt es Beschäftigungsmöglichkeiten. Die Wirtschaft wirkt mit bei Sprachkursen und leistet Integrationshilfe. Eine weitere, sehr kritische Folge des Krieges sind in vielen Branchen Unterbrechungen von Lieferketten und deren Sekundär- und Tertiäreffekte. Erste Engpässe gibt es, weitere bahnen sich an. Nicht alle werden ohne Verwerfungen zu bewältigen sein. Preissteigerungen sind eine Konsequenz, aber ebenso spürbare Versorgungslücken. Uns in Deutschland treffen diese Einschränkungen zweifellos auf einem hohen Wohlstandsniveau. Anderswo sieht es viel düsterer aus: Fundamentale Nöte in der Nahrungsmittelversorgung könnten auf viele Länder zukommen, weil die Kornkammer Ukraine ausfällt.
Das Megathema für uns ist die Energieversorgung: Gas, Öl, Kohle. Preissprünge an den Tankstellen und das Hochschnellen der Ausgaben für Heizen sehen wir schon jetzt. Die Konsequenzen aus einem kurzfristigen Stopp der Gasbezüge aus Russland würden allerdings ganz andere Dimensionen einnehmen, unweigerlich heftigste Auswirkungen auf weite Teile der Produktionsnetzwerke der Industrie haben und viele Fabrikstandorte stilllegen. Alle Aussagen, dass die Auswirkungen im Durchschnitt der Wirtschaft verkraftbar seien, verkennen die tatsächliche Faktenlage: Es geht nicht um Durchschnitt und nicht um einige Tage „Frieren für den Frieden“, sondern um Stillstand ganzer Industriezweige und großer Industriezentren – und um eine massive Beschädigung der größten Stärke Deutschlands auch in internationalen Konflikten: seiner wirtschaftlichen Kraft und Stabilität.
Die Wahrheit ist: Unser Land ist nicht vorbereitet auf ein rasches Umlegen des Schalters, denn diesen einen Schalter gibt es nicht. Das mitunter angeführte Argument, Ausfälle inländischer Unternehmen seien durch ausländische Zulieferer rasch kompensierbar, verkennt die unmittelbare, drastische Betroffenheit ganzer Branchen und Regionen, wie etwa der gesamten chemischen Industrie, aber beispielsweise auch von Nahrungsmittelproduzenten mit unmittelbaren Folgen für die Alltagsversorgung. Beschäftigungslosigkeit und massive Ausfälle wären unvermeidbar.
Wir haben weder kurzfristig ausreichende andere Bezugsquellen noch die Infrastruktur, um alternative Energieträger dahin zu bringen, wo sie gebraucht würden. Die Verantwortungsträger in der Politik sind sich dieser Situation bewusst. Dass es sich um eine Dilemmasituation handelt, bezweifelt niemand. Aber moralischer Impetus kann nicht alleiniger Handlungsmaßstab sein: Wir müssen abwägen, was wen härter trifft und wo wir uns selbst mehr schwächen, als mit sofortiger Durchschlagkraft auf den Kriegstreiber Einfluss zu gewinnen.
Natürlich müssen wir so rasch wie möglich unabhängig von russischem Öl und Gas werden und dürfen dabei nicht in neue einseitige Abhängigkeiten geraten. Dazu gehört der nochmals beschleunigte massive Ausbau erneuerbarer Energien und notwendiger Infrastrukturen hier bei uns. Aber nichts davon gelingt über Nacht. Wir dürfen nicht Wunschdenken mit dem Möglichen verwechseln und das dann zur Handlungsgrundlage machen.
Vieles an unserem Weltbild der vergangenen Jahrzehnte ist ins Wanken geraten. Der bei uns verbreitete Glaube an Vernunft, Fortschritt und Modernisierung wird längst nicht überall auf der Welt geteilt – nicht nur im wirtschaftlichen und technischen Sinn, sondern auch unsere Vorstellung von einer freiheitlich-demokratischen Lebensweise in einer Staats- und Gesellschaftsform mit Gewaltenteilung, zivilgesellschaftlichen Strukturen und freiem Unternehmertum.
In vielen Staaten sind völlig andere Gesellschaftsmodelle Realität. Und selbst in unzweifelhaft demokratisch verfassten Ländern des Westens erleben wir ein weit auseinanderlaufendes Spektrum von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – etwa bezüglich der Freiheit zivilgesellschaftlichen Engagements.
Der demokratische Westen steht in heftigem Systemwettbewerb. An der Spitze der Wettbewerber steht China. Dieser Wettbewerb wird auf vielen Ebenen ausgetragen, nicht nur auf den Feldern von Handel, Technik und Innovationen. Einseitige Abhängigkeiten sind in dieser Welt konkurrierender Systeme gefährlich, und wir müssen sie überwinden, wo sie heute bestehen, und abwenden, wo sie drohen. Wir müssen realistisch auf die Welt schauen, uns korrigieren und zugleich neue Irrwege vermeiden. Abschottung, Kappung von Beziehungen, Ausschluss und Isolation sind im akuten Fall Russlands zwar die zwingende Reaktion auf den Aggressor – aber sie sind nicht der Schlüssel für die Gestaltung der Welt von morgen.
Koexistenz unterschiedlicher Staats-, Wirtschafts- und Herrschaftssysteme zu konstatieren wäre zu wenig, wir brauchen auch Kooperation. Völlig offenkundig ist das auf dem Gebiet des Klimaschutzes. Aus unserer Perspektive ist dieses Miteinander auch im Sinne globaler Menschenrechte und im Geiste der Humanität geboten. Die zivilisierte Welt basiert auf Begegnung, kulturellem Austausch und Handel, Kooperation von Universitäten, Austausch von Studierenden, Schülerinnen und Schülern: All das sind Bindeglieder in der Welt, auch und gerade da, wo Konfrontation eine lauernde oder akute Gefahr ist. Der Grat ist schmal. Aber die Alternative ist keine: Blockbildung und gewaltsame Entladung in Konflikten, all das, was wir gerade drastisch erleben.