„Vor allem die Verrohung der Sprache in sozialen Netzen lässt die Forderung nach einer sogenannten digitalen Ethik laut werden. Das Institut für Digitale Ethik der Hochschule der Medien in Stuttgart hat beispielsweise auf seiner Website zehn Gebote der digitalen Ethik veröffentlicht. Sie sollen eine Empfehlung für den Umgang miteinander in sozialen Netzen geben. Das ist bitter nötig: Tatsächlich wird, wer sich häufig in sozialen Netzen bewegt, bestätigen, wie wichtig die Befolgung derartiger Grundsätze wäre – und wie wenige Nutzer sie beherzigen.
Viel grundsätzlicher wird die neue Daten-Ethikkommission werden müssen, der ich angehöre. Sie wird der Bundesregierung und dem Parlament einen Entwicklungsrahmen für Datenpolitik sowie den Umgang mit Algorithmen, künstlicher Intelligenz und digitalen Innovationen empfehlen. Wir haben diese Arbeit im September aufgenommen und sollen binnen eines Jahres Ergebnisse vorlegen.
Prominent wird das Thema Ethik auch im Zusammenhang mit dem Einsatz autonom fahrender Fahrzeuge diskutiert. In der vergangenen Legislaturperiode stellte eine Ethikkommission unter Leitung des langjährigen Verfassungsrichters Udo di Fabio im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums 20 Richtlinien für autonom fahrende Autos auf.
Wesentliche Feststellungen des Gremiums betreffen unmittelbare Fragestellungen des autonomen Fahrens. So sei das automatisierte und vernetzte Fahren ethisch geboten, wenn die Systeme weniger Unfälle verursachen als menschliche Fahrer. Es gelte das Prinzip, dass Sachschaden vor Personenschaden gehe, in Gefahrensituationen also der Schutz menschlichen Lebens immer Priorität habe. Und in unausweichlichen Unfallsituationen sei jede Qualifizierung von Menschen nach persönlichen Merkmalen wie Alter, Geschlecht, körperlicher oder geistiger Konstitution unzulässig.
Darüber hinaus trafen die Fachleute Festlegungen, die weit über das Fahren hinausgehen. In jeder Fahrsituation müsse klar geregelt und erkennbar sein, wer tatsächlich gefahren ist. Wer fährt, müsse dokumentiert und gespeichert werden, etwa um Haftungsfragen zu klären. Der Fahrer müsse grundsätzlich selbst über Weitergabe und Verwendung seiner Fahrzeugdaten entscheiden, Stichwort Datensouveränität.
Datenspeicherung und Datensouveränität reichen weit in das geltende Datenschutzrecht hinein. Es geht um Dateneigentum und informationelles Selbstbestimmungsrecht. Der überkommene Grundsatz der Datensparsamkeit, der das gegenwärtige Datenschutzrecht prägt, tritt in den Hintergrund. Je mehr digitale Technologien selbstverständlicher Teil unseres Alltags werden, umso mehr werden wir die gesellschaftlichen Diskussionen darüber, was man darf und was nicht, führen müssen.
Der Berliner Philosophie-Professor Christoph Asmuth, der sich eher ablehnend gegenüber den Bereichsethiken äußert, unterscheidet vier große Bereiche, in denen es in der digitalen Welt zu ethischen Problemen komme: Automatisation, Substitution, Hybridisierung und Öffentlichkeit. Er schlussfolgert, digitale Ethik sei nicht etwa eine neue Art von Ethik, sondern Ethik, allerdings beschränkt auf konkrete Probleme unserer heutigen digitalen Welt.
Ein einprägsames Beispiel aus dem Straßenverkehr konnte ich als Testinstallation in einem chinesischen Unternehmen bestaunen: Ein Fußgänger, der eine Kreuzung bei Rot überquerte, wurde mittels Gesichtserkennung und Verknüpfung mit einer Bilddatenbank identifiziert – und noch während des Überquerens der Straße mit Preisgabe seiner Identität auf sein Fehlverhalten hingewiesen. Dies dürfte vielen Menschen einen kalten Schauer über den Rücken jagen. Noch eisiger wird es mir, werden die in China gegenwärtig erprobten Verfahren Realität, Fehlverhalten mit Punkten zu bewerten, die von einem Sozialguthaben abgezogen werden.
Angesichts dieser Szenarien mehren sich Stimmen, die eine Digitalethik verlangen. So verständlich die Forderung erscheinen mag: Wir sollten uns im Klaren darüber sein, dass es sich bei Ethik nicht um eine naturwissenschaftliche Disziplin mit klaren naturgesetzlichen Wertevorstellungen handelt. Vielmehr ändert das Wertesystem sich im Zeitverlauf, zudem unterliegt es kulturellen wie sozio-politischen Einflüssen. So beurteilte die Mehrzahl meiner Gesprächspartner in China das geplante System eines Sozialguthabens weitaus positiver, als das in Deutschland der Fall war.
Eine weitere Dimension wurde durch die Warnung von Stephen Hawking vor dem Einsatz künstlicher Intelligenz eröffnet: Sie sei, so der kürzlich verstorbene Physiker, eine Bedrohung der menschlichen Zivilisation. Es ist deshalb zu begrüßen, dass sich die Gesellschaft für Informatik als eine der Organisationen der Konstrukteure dieser künftigen digitalen Welt intensiv mit Fragen der digitalen Ethik beschäftigt. Sie hat die Handlungsanweisungen für ihre Mitglieder in ethischen Leitlinien zusammengefasst.
Unsere offene Gesellschaft darf diese wichtige Diskussion aber keinesfalls nur Fachleuten und Konstrukteuren überlassen. Voraussetzung dafür, dass wir gesellschaftlich breit diskutieren und technisch wie moralisch geeignete Lösungen finden, ist eine deutlich intensivierte digitale Bildung – und zwar ab der Sekundarstufe.
Dabei geht es mir nicht darum, Programmiernachwuchs auszubilden. Vielmehr ist entscheidend, den kommenden Generationen das Rüstzeug für digitale Souveränität mitzugeben: Sie sollen in der Lage sein, derart schwierige und neue Entscheidungen selbstbestimmt und unabhängig zu treffen.
Deshalb ist es gut, dass der Koalitionsvertrag der Bundesregierung die Stärkung der digitalen Bildung vorsieht. Zweifellos wird die Herstellung von gesellschaftlichem Konsens immer noch schwierig genug bleiben. Aber ein stärkeres Bewusstsein für digitale Standards in der Öffentlichkeit sollte sich am Ende, so hoffe ich, auch darauf auswirken, wie wir miteinander im Web und in den sozialen Medien kommunizieren.“