Als die Planungen Ende 2019 Fahrt aufnahmen, bestand die Hoffnung, Deutschland könne den Fokus auf Legislativarbeit mit der neuen EU-Kommission und dem neuen Europäischen Parlament richten. Nun steht die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ganz im Zeichen der Corona-Krise. Inzwischen sieht sich Europa mit einem beispiellosen Konjunktureinbruch und stark steigenden Staatsschulden bei einer wachsenden wirtschaftlichen Kluft zwischen den EU-Mitgliedstaaten konfrontiert.
Kernherausforderung zu Beginn der deutschen Präsidentschaft wird sein, den Zusammenhalt der EU zu stärken. In den nachfolgenden Wochen und Monaten werden Diskussionen über den Mehrjährigen EU-Finanzrahmen – einschließlich des EU-Wiederaufbauinstruments „Next Generation EU“ – sowie die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zu Großbritannien nach dem Brexit den deutschen Vorsitz prägen.
In Zeiten von Corona muss die Kontinuität und Effektivität der Ratsarbeit sichergestellt sein. Was bei der Vielzahl brisanter Kommissionsvorschläge, 27 Mitgliedstaaten und einem Ratssekretariat von überschaubarer Größe ohnehin anspruchsvoll ist, wird aufgrund der Corona-Krise zum logistischen Albtraum: eingeschränkter Reiseverkehr, „Social Distancing“-Regeln und begrenzte Entscheidungsmöglichkeiten im Rahmen von Video- und Telefonkonferenzen werden Verhandlungen und den Gesetzgebungsprozess erheblich erschweren. Die Erwartungshaltung unserer europäischen Partner ist dabei eindeutig: Wenn ein Land diese Aufgabe stemmen kann, dann die Bundesrepublik.
Die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Ratspräsidentschaft sind allerdings begrenzt – der hohen öffentlichen Erwartungshaltung zum Trotz. Die politische Agenda wird durch Gesetzesvorschläge der Europäischen Kommission und Beschlüsse des Europäischen Rates (ER) vorgegeben. Seit 2009 hat dieser einen permanenten Präsidenten – die medientauglichen Tagungen der Staats- und Regierungschefs fallen nicht mehr in den Einflussbereich der Ratspräsidentschaft. Trotzdem ist der Vorsitz auf Zeit kein zahnloser Tiger: Die Bundesregierung kann Tagesordnungen des Rates priorisieren und informelle Ratstagungen oder Veranstaltungen thematisch ausrichten. Das alles sind mögliche Ansatzpunkte für politische Einflussnahme.
Die Bundesregierung will zu Recht die Überwindung der Corona-Krise und die wirtschaftliche Erholung Europas in den Mittelpunkt der Ratspräsidentschaft stellen. Die Agenda enthält zahlreiche wachstumsrelevante Prioritäten wie die Vertiefung des Binnenmarkts, die Umsetzung der Industrie- und Digitalstrategie, eine entschlossene Außen- und Handelspolitik.
Besonders ambitioniert sind die Verhandlungen für ein milliardenschweres Programm zum Wiederaufbau Europas. Sie müssen rasch abgeschlossen werden. Denn die europäische Wirtschaft braucht schnell massive Unterstützung. Je länger sich die Verhandlungen ziehen, desto höher schwillt die Insolvenzwelle an. Die von der EU-Kommission vorgeschlagenen 150 Milliarden Euro Kredite für strategische Industrien reichen bei Weitem nicht aus, um die Industrie in Europa umfassend zu stärken.
Die Bundesregierung will den Green Deal vorantreiben. Ziel ist es, die progressive Klima- und Umweltpolitik wirtschaftspolitisch ausgewogen und sozial gerecht auszugestalten. An diesem Anspruch wird die Bundesregierung gemessen: Die deutsche Ratspräsidentschaft muss den Green Deal zu einem wirklichen Wachstumsprogramm formen. Vor allem ist zu klären, ob und wie die ehrgeizigen 2030-Ziele in so kurzer Zeit erreicht werden, nämlich die Treibhausgasemissionen von 50 bis 55 Prozent zu senken. Ferner sollten auch Themen wie Gebäudemodernisierung, Investitionen in smarte und nachhaltige Mobilität sowie kostengünstige erneuerbare Energien vorangetrieben werden. Die Wirtschaft braucht vor allem ein verändertes EU-Beihilferecht, das ambitionierten Klimaschutz mit Wettbewerbsfähigkeit und zusätzlichen Investitionen auch in Krisenzeiten vereint.
Darüber hinaus strebt die Bundesregierung eine handlungsfähige Union für eine partnerschaftliche und regelbasierte internationale Ordnung an. Die EU benötigt vor allem eine ganzheitliche Strategie gegen den grassierenden Protektionismus. Die deutsche Ratspräsidentschaft sollte vorrangig die Reform der WTO unterstützen, das EU-Mercosur-Freihandelsabkommen zur Unterzeichnung bringen und eine geschlossene europäische Antwort auf alle Fragen unfairen Wettbewerbs mit Chinas staatlich geprägter Wirtschaft finden.
Bei der Umsetzung des Präsidentschaftsprogramms kommt es darauf an, dass alle Maßnahmen zur inneren und äußeren Stärkung Europas beitragen. Schon jetzt ist klar: Das 25-seitige Präsidentschaftsprogramm enthält einige Ressortwünsche – wie einen EU-Aktionsplan zur Stärkung der Unternehmensverantwortung in globalen Lieferketten –, die pandemiebedingt in der zweiten Jahreshälfte gar nicht zur Verhandlung im Rat anstehen.
Als BDI möchten wir die Diskussionen über die zu ergreifenden Maßnahmen mit unserer Expertise konstruktiv begleiten. In dem Papier „Europa aus der Krise führen“ haben wir neben unseren grundsätzlichen Prioritäten formuliert, was börsennotierte Konzerne und mittelständische Familienunternehmen bei den konkret anstehenden Initiativen von der Politik erwarten, damit Europa gestärkt aus der Krise hervorgeht.