Vor fast vier Jahren haben der Bundesverband der Deutschen Industrie und die Boston Consulting Group ihre seitdem vielzitierte Studie „Klimapfade für Deutschland“ vorgestellt. Heute, angesichts der verschärften deutschen und europäischen Klimaziele, ist ein Update nötiger denn je. In „Klimapfade 2.0 - Ein Wirtschaftsprogramm für Klima und Zukunft“ waren 80 Unternehmen und Industrieverbände mit mehr als 150 Expertinnen und Experten involviert. Es gab in den 24 Wochen, in denen die Studie erarbeitet wurde, insgesamt 30 Workshops. Das Ergebnis bildet das Know-how der Industrie in ihrer ganzen Breite ab. Wir präsentieren eine detaillierte Machbarkeitsstudie, wie sich auf nationaler Ebene die ehrgeizigen Klimaschutzziele für 2030 und 2045 mit schnellem Handeln und ohne Fehlinvestitionen erreichen lassen.
Was unsere Studie so einzigartig macht, ist der konsequente Fokus auf eine „Bottom-Up“-Betrachtung zahlreicher Unternehmen und Fachleute. Das Resultat ist eine ausführliche betriebswirtschaftliche Betrachtung mit konkreten, im Betrachtungszeitraum realisierbaren Investitionsvorschlägen und mit den Investitions- und Betriebskosten der einzelnen Maßnahmen – nur diese Kombination, diese ganzheitliche Betrachtung verdient die Bezeichnung „Machbarkeitsstudie“. Das ist in diesem Detaillierungsgrad neu – und aus unserer Sicht die entscheidende, die realistische Perspektive, die die Politik annehmen muss: Denn Klimaschutz kostet, und er muss sich rechnen – für die Unternehmen, für die Bürgerinnen und Bürger. Wir zeigen Pfade auf, wie Klimaschutz unter dieser realistischen Perspektive funktionieren kann.
Die Politik spricht viel zu wenig darüber, was konkret passieren muss und in welcher zeitlichen Taktung, um die Ziele zu erreichen – und sie drückt sich vor der Aussage, was das kostet und wer das bezahlen muss. Ein zentrales Ergebnis unserer Studie lautet: Die Umsetzung der Klimaschutzmaßnahmen erfordert bis 2030 Mehrinvestitionen in Höhe von rund 860 Milliarden Euro, die Staat, Bürgerinnen, Bürger und Unternehmen aufbringen müssen. Das entspricht pro Jahr etwa 100 Milliarden Euro. Das ist deutlich mehr, als der Staat bislang jährlich insgesamt am Standort investiert – ein gewaltiger Kraftakt.
Das klimaneutrale Industrieland gibt es nicht zum Nulltarif – weder für Unternehmen noch für private Haushalte. Die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung werden längst nicht ausreichen, um die vorgeschlagenen Instrumente und den Ausgleich für Bürger und Unternehmen zu finanzieren. Es bleibt eine zusätzliche fiskalische Belastung für den Staat von rund 50 Milliarden Euro im Jahr 2030. Mit den notwendigen Investitionssummen allein ist es für die neue Bundesregierung noch nicht getan. Sie muss den Weg zum klimaneutralen Deutschland entlang von zwei weiteren zentralen Leitplanken ausbauen:
Erstens einer historisch einzigartigen Infrastrukturoffensive für einen massiven Ausbau von Strom-, Fernwärme, CO2- und Wasserstoffnetzen, Lade- und Wasserstofftankstellen sowie Schienennetzen in Höhe von 240 Milliarden Euro. Zweitens einer Revolution bei Planungen und Genehmigungen durch Vereinfachung, Verkürzung und Digitalisierung der Verfahren sowie durch zusätzliche Kapazitäten und digitale Kompetenzen in Behörden und Gerichten. Für jahrelange Planungs- und Genehmigungsverfahren auf der Basis von Papierausdrucken lassen die ehrgeizigen Klimaziele keine Zeit mehr.
Uns läuft die Zeit davon. Nach heutigem Fahrplan wird kein Sektor seine Klimaziele erreichen. Ohne sofortiges Umsteuern wird Deutschland bis 2030 etwa 184 Millionen Tonnen CO2 einsparen: Das sind nur 49 Prozent, nicht einmal die Hälfte von dem, was die bisherige Regierung beschlossen hat. Die nächste Bundesregierung muss umgehend handeln, Entscheidungen – schon in den kommenden Monaten – sind überfällig, um Investitionssicherheit zu schaffen. Klimaschutz muss Chefsache werden. Ein so umfassendes Programm braucht nicht zuletzt aufgrund seiner vielfältigen Querbeziehungen zu anderen Themen eine zentrale strategische Steuerung in der Regierung. Anstelle einer fragmentierten Verantwortung, wie wir sie vom Klimakabinett der Großen Koalition kennen, muss in der nächsten Bundesregierung die zentrale Klimakompetenz idealerweise beim Bundeskanzler liegen. Strategische Steuerung bedeutet auch: nicht jedes Jahr aufs Neue ineffiziente Sofortmaßnahmen lostreten, falls eines der jährlichen Sektorziele des Klimaschutzgesetzes nicht ganz erreicht wird. Sondern: größer denken und ein Wirtschaftsprogramm für Klima und Zukunft jetzt aufsetzen, das Kraft hat und dessen Wirkung kontinuierlich überprüft wird.
Die gute Nachricht ist: Das Ziel Klimaneutralität bis 2045 ist überaus ehrgeizig, aber technologisch im Prinzip machbar. Doch es gibt für diese gewaltige Aufgabe keine einfachen Lösungen. Ein höherer CO2-Preis allein wird es nicht richten. Und wer glaubt, dass sich angesichts der bevorstehenden Belastungen die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrien mit ein paar steuerlichen Abschreibungen in klimafreundliche Investitionen sichern lässt – der ist auf dem Holzweg. Klimafreundliche Technologien sind unterschiedlich reif und zu sehr unterschiedlichen Kosten verfügbar. Und die politischen Ziele sind kurzfristig und sehr ambitioniert. Deshalb müssen unterschiedlichste Maßnahmen umgesetzt werden – ab sofort, gleichzeitig und in allen Sektoren.
Wir formulieren in unserer Studie insgesamt 21 Top-Vorschläge entlang der vier Sektoren Industrie, Energiesystem, Verkehr und Gebäude, damit Deutschland den Veränderungsprozess meistert – ohne soziale und ökonomische Brüche. Zu diesen Instrumenten gehören die eben erwähnte Infrastrukturoffensive, etwa für Wasserstoffpipelines, genauso wie zum Beispiel Klimaschutzverträge, grüne Leitmärkte und Kaufanreize für Elektroautos.
Unsere Unternehmen müssen bei der Modernisierung ihrer Produktionskapazitäten mittelfristig deutlich höhere Betriebskosten für CO2-arme Produktionsverfahren und CO2-freie Energieträger finanzieren.
Im Industriesektor sind schon bis 2030 rund 50 Milliarden Investitionen in die Veränderung zentraler Produktionsprozesse wie für Stahl, Chemie und Zement notwendig – und nach 2030 müssen diese Investitionen fortgesetzt werden. Doch das ist längst nicht die größte Herausforderung: Für die Industrie sind weniger die Kapitalkosten, sondern vor allem die deutlich höheren Betriebskosten von klimafreundlichen Technologien im Alltag die größte Herausforderung. Denn die hohen Investitionskosten im Energiebereich von heute sind die hohen Betriebskosten der Industrie von morgen. Gleichzeitig wird bis 2030 allein der Strombedarf in der Industrie durch die Elektrifizierung von industriellen Wärmeprozessen um 63 Terawattstunden steigen – diese Zunahme entspricht aktuell dem Strombedarf der gesamten Schweiz. Und zwischen 2030 und 2045 wird sich dieser Trend fortsetzen. Die Politik muss die Unternehmen auf dem Weg in die Klimaneutralität deshalb so unterstützen, dass erneuerbare Energien und ihre Nutzung deutlich günstiger werden. Sie muss international wettbewerbsfähige Energiekosten sichern, bestehende Entlastungsregeln beibehalten und die EEG-Umlage abschaffen.
Die aktuelle Planlosigkeit und Unsicherheit der deutschen Klimapolitik drohen zur Gefahr für unseren Standort zu werden: vom Auseinanderdriften der Gesellschaft und einer dauerhaften Schwächung der Industrie bis hin zur Abwanderung kompletter industrieller Wertschöpfungsketten. Deshalb muss die Politik die Erkenntnisse dieser Studie ernst nehmen. Und sie muss bei der Formulierung ihrer Klimaschutzpolitik dringend raus aus der nationalen Käseglocke: Die kommende Bundesregierung muss sich stärker für eine europäisch und international abgestimmte Klimapolitik einsetzen. Nur so ist dem Klimaschutz weltweit gedient.
Wollen wir in Deutschland global Vorbild dafür bleiben, dass Klimaschutz und Wohlstand vereinbar sind, müssen wir im Alltag beweisen, dass und wie es uns gelingt. Wenn wir scheitern, werden wir nicht nur hier in Deutschland die Akzeptanz verlieren, sondern auch andere Länder abschrecken. Wir wollen Vorbild bleiben, indem Klimaschutz made in Germany funktioniert. Mit unserem Know-how und unserem Erfindergeist kann und wird die deutsche Industrie die richtigen Antworten geben – wenn unsere Unternehmen die Freiheit und Unterstützung erhalten, die sie für den Schutz des Klimas brauchen.