Industrie 4.0 – selten hat ein Schlagwort der Industrie eine so hohe Aufmerksamkeit erzielt. Fast täglich erscheinen neue Artikel und Studien zu dem Thema. Von der Industrie der Zukunft ist die Rede. Ich bin überzeugt: Wenn Industrie 4.0 konsequent umgesetzt wird, wird sich die Art, wie wir produzieren, wirtschaften und arbeiten, komplett verändern. Auch die Rolle der Unternehmensfinanzierung wird sich weiter wandeln – weiter wandeln müssen.
Leider werden die Auswirkungen von Industrie 4.0 auf die Finanzierung der Unternehmen in der öffentlichen Debatte bislang eher stiefmütterlich betrachtet. Dabei ist dieser Befund zentral für den Erfolg der digitalen Transformation: Sie stellt geänderte Anforderungen an die Unternehmensfinanzierung. Drei Aspekte spielen eine herausragende Rolle.
Erstens: der hohe Investitionsbedarf und der geänderte Investitionsbegriff. Verschiedene Umfragen zeigen: Der hohe Investitionsbedarf ist für viele Unternehmen eine der größten Herausforderungen bei der Umstellung auf Industrie 4.0.
Unternehmen erwarten, dass sie in den kommenden zehn Jahren rund 40 bis 50 Prozent ihres Maschinenparks austauschen müssen. Die größere Herausforderung liegt für Unternehmen aber nicht im Kauf von Maschinen und Anlagen, sondern in der Neugestaltung von Unternehmensprozessen. Vor allem müssen Unternehmen ihre Mitarbeiter fit für die anstehenden Aufgaben machen. Immaterielle Vermögenswerte wie etwa Patente, Software oder Schulungsmaßnahmen für die Mitarbeiter werden zu zentralen Bereichen des Investitionsbegriffs.
Zweitens: die unternehmensübergreifende Zusammenarbeit. Kooperationen werden zentral. Studien zufolge ist schon heute rund die Hälfte aller Industrieunternehmen davon überzeugt, dass eine vertiefte Zusammenarbeit mit Wertschöpfungspartnern von hoher Bedeutung ist. Im Zuge von Industrie 4.0 wird diese Bedeutung nochmals deutlich zunehmen. Über 80 Prozent der befragten Unternehmen gehen davon aus, dass in fünf Jahren vertiefte Kooperationen einen wichtigen Stellenwert haben werden.
Die unternehmensübergreifende Zusammenarbeit ermöglicht, Kundenbedürfnisse besser zu erfüllen. Sie ist für die digitale Vernetzung aller Akteure der Wertschöpfungskette zwingend notwendig. Zudem verfügen viele Unternehmen über keine ausreichende eigene Expertise in der Informationstechnologie. Sie benötigen Partner aus dem IT-Bereich, die es übernehmen, Daten zu übertragen, zu speichern, auszuwerten und weiterzuverarbeiten.
Kooperationsprojekte von Unternehmen, Abnehmern, Zulieferern und IT-Dienstleistern sind im Zeitalter der Industrie 4.0 eher die Regel als die Ausnahme. Dies gilt auch für die Zusammenarbeit etablierter und junger Unternehmen.
Drittens: die steigende Bedeutung von innovativen Start-ups. Start-ups haben in den vergangenen Jahren immer wieder bewiesen, welche Innovationskraft sie entwickeln. Sie haben durch neue Geschäftsmodelle ganze Branchen verändert. Sie bringen vieles mit, was neue technologische Entwicklungen befördert: Risikobereitschaft, dynamische Unternehmensstrukturen und einen großen Erfolgswillen.
Nicht ohne Bewunderung schauen wir auf das Silicon Valley, ein Ökosystem für Start-ups, das weltweit seinesgleichen sucht. Wir müssen in Deutschland unser eigenes Ökosystem aufbauen. Eine Kopie des Silicon Valley kann und darf aber nicht das Ziel sein. Vielmehr müssen wir uns in Deutschland auf unsere Stärken besinnen. Die liegen eindeutig in unserer hervorragenden industriellen Basis. Unser Industrieanteil am Bruttoinlandsprodukt liegt mit fast 23 Prozent auf hohem Niveau. Zum Vergleich: In den USA sind es nur etwa 13 Prozent.
Das Ziel ist klar: Es muss gelingen, die Stärken der traditionellen Industrie mit der kreativen Start-Up Szene zusammenzuführen. Wir müssen Brücken bauen zwischen etablierten Weltmarktführern und innovativen Gründern. Dann können beide Seiten profitieren. Gerade Industrie 4.0-Technologien bieten eine hervorragende Spielwiese für Gründer, um neue Geschäftsmodelle auszuprobieren und der Kreativität freien Lauf zu lassen.
Die Bedeutung von Start-ups haben unsere Unternehmen verstanden: Immer mehr Firmen eröffnen Dependancen im Silicon Valley oder in Berlin. Sie investieren in Start-ups, stellen Büros und technisches Know-How zur Verfügung. Dies ist für mich eine überaus interessante Entwicklung, von der ich mir beispielsweise im Berliner Betahaus schon einen Eindruck verschaffen konnte.
Ein Selbstläufer wird das sicherlich nicht. Dennoch – ich bin optimistisch: Wenn Wirtschaft und Politik diese Herausforderungen gemeinsam meistern, können Vernetzung und Digitalisierung nicht nur Geschäftsprozesse vereinfachen und beschleunigen. Sondern das Leben der Menschen auf vielen Ebenen erleichtern.
Was heißt all das nun für die Unternehmensfinanzierung? Die Industrie steht bei der digitalen Transformation vor gewaltigen Herausforderungen. Das Megaprojekt Industrie 4.0 wird nur dann ein Erfolg, wenn auch die finanziellen Voraussetzungen stimmen. Nur so werden wir den unausweichlichen Strukturwandel in der Wirtschaft stemmen können. Dieser Anspruch ist hart und konsequent zu erarbeiten: natürlich in den Unternehmen selbst, aber auch in Politik und Gesellschaft.