„Was ist von der Senkung der Mehrwertsteuer zu halten, die das DIW vorgeschlagen hat, um untere Einkommensgruppen zu entlasten? Ausgangspunkt der Empfehlung ist, dass die unteren Einkommen von einer niedrigeren Einkommensteuer nicht erreicht würden, weil sie ohnehin kaum oder keine Einkommensteuer zahlen.
Das hört sich zunächst vernünftig an – und passt auf den ersten Blick zum Leistungsfähigkeitsprinzip, einem Kern unseres Steuersystems. Demnach sollen starke Schultern mehr zahlen als schwache. Deshalb ist das Einkommensteuersystem progressiv, zahlen höhere Einkommen mehr als kleinere.
Doch bei der allgemeinen Verbrauchsteuer, der Mehrwertsteuer, lässt sich eine vergleichbare Progression in der Praxis, wenn überhaupt, nur schwer umsetzen. Schließlich wird die Umsatzsteuer indirekt erhoben: Nicht der Konsument führt diese Steuer an den Staat ab, sondern der Verkäufer. Und der weiß nicht, was sein Kunde bisher im Jahr alles schon gekauft hat. Deshalb gibt es einen einheitlichen Steuersatz von 19 Prozent und als Ergänzung einen ermäßigten Satz von sieben Prozent für Güter des Grundbedarfs und darüber hinaus sogar Umsatzsteuerbefreiungen, wie beispielsweise bei der Wohnungsvermietung.
Die Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen wird grundsätzlich am Einkommen gemessen. Das Einkommen ist dem Konsum stets vorgeschaltet: Was konsumiert werden soll, muss zunächst erwirtschaftet oder verdient werden. Da bereits die Einkommen als Grundlage für den Konsum der progressiven Besteuerung unterliegen, ist es durchaus systemgerecht, den Konsum nicht nochmals progressiv zu versteuern. Zumal bei kleinem Verdienst – einkommensteuerfreie – staatliche Transfers das verfügbare Einkommen erhöhen. Und in diese Transfers ist die Mehrwertsteuerbelastung einkalkuliert.
Eine Senkung der Mehrwertsteuer zur Verbilligung des Konsums wäre eine steuerpolitische Kehrtwende: In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Abgabenlast auf Einkommen reduziert, um Arbeits- und Investitionsanreize zu fördern – mit dem Ziel, das Wachstum der deutschen Volkswirtschaft anzuregen. Die gute aktuelle Lage zeigt, dass diese Strategie richtig war. Deshalb wirkt der Vorschlag des DIW wie ein Rückschritt in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts: zurück zur Nachfragepolitik. Die Hoffnung: Eine geringere Mehrwertsteuer führt zu mehr Konsum, hellt damit die Konjunktur auf und beschert so auch mehr Wachstum. Leider wird aus einer konjunkturellen Belebung fast nie ein selbstragendes, langfristiges Wachstum.
Umgekehrt könnte eine Mehrwertsteuersenkung ein kurzfristiges konjunkturelles Strohfeuer entfachen und den aktuellen Aufschwung sogar überhitzen. Übrigens würden von einer Senkung der Mehrwertsteuersätze nicht nur untere Einkommen profitieren, sondern auch Bezieher mittlerer und höherer Einkommen. Diese fehlende Zielgenauigkeit macht eine reduzierte Mehrwertsteuer fiskalisch ausgesprochen teuer: Schon die Senkung des Normalsatzes um einen Prozentpunkt auf 18 Prozent würde den Staat pro Jahr gut elf Milliarden Euro kosten, die des ermäßigten Satzes auf sechs Prozent käme auf rund 2,6 Milliarden Euro.
In der laufenden und der vorherigen Legislaturperiode hat das Bundesfinanzministerium diverse Male die Möglichkeiten verschiedener Reformen der Mehrwertsteuer ausgelotet. Schnell stand fest: Die politischen Widerstände sind zu groß. Dennoch sollte sich der Gesetzgeber keineswegs zurücklehnen. Durch den Verzicht auf Experimente bei der Mehrwertsteuer lassen sich bestehende Spielräume in den öffentlichen Haushalten für überfällige Strukturreformen bei anderen Steuern nutzen. Hier besteht Handlungsbedarf.
Statt kleinteiliger Entlastung mit der Gießkanne bei der Umsatzsteuer hat Bundesfinanzminister Schäuble bereits die Notwendigkeit einer Unternehmensteuerreform erkannt. Jetzt muss die Politik liefern. Dazu sollte sie wachstumsfreundliche Strukturreformen, die die internationale Verflechtung der Wirtschaft angemessen berücksichtigen, rasch auf den Weg bringen. Steuerpolitik ist Standortpolitik.
Eine Auswertung zahlreicher Geschäftsberichte unterstreicht klar die Reformnotwendigkeit im deutschen Unternehmensteuerrecht. Entgegen der öffentlichen Meinung tragen die international ausgerichteten Unternehmen in Deutschland eine höhere Steuerbelastung als Unternehmen mit einer rein nationalen Marktpräsenz. Die Benachteiligung der international tätigen Unternehmen führt zu einer steuerlichen Belastung, die im Durchschnitt um ein Fünftel höher liegt als für Unternehmen auf dem heimischen Markt. Vor dem Hintergrund, dass immer mehr Unternehmen aus Deutschland auf den internationalen Märkten präsent sind, ist der Reformdruck gestiegen. Neben den großen und börsennotierten Unternehmen hat sich auch der deutsche Mittelstand international ausgerichtet. Nahezu 90 Prozent der Mittelständler in der Industrie sind mit ihren Mitarbeitern auf den internationalen Absatzmärkten selbst oder über ihre exportierenden Kunden aktiv.
Seit der jüngsten Unternehmensteuerreform vor fast zehn Jahren sind zahlreiche weitere Reformbaustellen offen. Dazu gehören Fragen zum Abbau der ertragsunabhängigen Elemente und deren Hemmnisse für eine Harmonisierung der Unternehmensteuer in Europa, die dringend beantwortet werden müssen. Umso mehr muss die Steuerpolitik in der nächsten Legislaturperiode die richtigen Prioritäten setzen und nachhaltig wachstumsfreundliche Steuerreformen für die Unternehmen und ihre Mitarbeiter auf den Weg bringen. Eine Senkung der Mehrwertsteuer gehört dazu nicht.“