Schon vor Corona befand sich die WTO in einer Notlage. Reformbemühungen kommen seit Jahren nicht vom Fleck. Über einen Zollabbau für Industrie- und Agrargüter wird multilateral schon gar nicht mehr verhandelt. Zudem blockieren die USA seit Ende vorigen Jahres die abschließende Schlichtung der zahlreichen Streitfälle zwischen den Mitgliedern. Nur mit einer baldigen Berufung eines neuen WTO-Chefs wird sich das Vertrauen in die Organisation wieder festigen lassen. Erstes Ziel muss sein, die US-Regierung am Verhandlungstisch zu halten.
In Deutschland und Europa, auch in unseren Industrieunternehmen, setzt die Mehrheit darauf, dass die Globalisierung trotz aller Rückschläge weitergeht. Daher steht die Modernisierung der WTO mit ihrem Regelwerk, ihren Kontrollverfahren und Verhandlungsgremien prominent im Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft.
Allerdings darf sich niemand falschen Hoffnungen hingeben: Sowohl in Peking als auch in Washington ist die Kompromissfähigkeit gerade nicht groß. Die Erwartungen an die WTO müssen vor dem Hintergrund des aktuellen Macht- und Interessengefüges neu und realistisch formuliert werden. Klar ist: Auch künftig wird die WTO zentrale Entscheidungen nur im Konsens fällen können. Faktisch hat also jedes Mitglied ein Vetorecht. Damit sind nur Veränderungen möglich, die China, die USA und alle anderen akzeptieren.
Dass die EU indes mit inzwischen 21 anderen WTO-Mitgliedern einen verbindlichen Interim-Berufungsmechanismus zur Schlichtung von Streitfällen beschließen konnte, beweist: Unter dem WTO-Dach schaffen es gleichgesinnte Mitglieder, sogar ohne Konsensentscheidungen voranzugehen und Blockaden zu überwinden. Außerdem wissen die USA und China, dass ihre Volkswirtschaften ein genauso hohes Interesse an einem offenen und geordneten Welthandel haben. Wenngleich ihre Heimatmärkte groß sind: Der Weltmarkt ist um ein Vielfaches größer.
Megathemen wie die digitale Transformation und der Klimaschutz haben eine starke handelspolitische Komponente – etwa die Regelung grenzüberschreitender Datenströme oder mögliche CO2-Grenzausgleichsmaßnahmen gegen Carbon Leakage. Diese globalen Aufgaben verlangen nach weltweiter Abstimmung und Lösungskompetenz. Einzig und allein die WTO eignet sich dafür als Rahmen.
Sollte im Januar ein neuer US-Präsident an die Macht kommen und ein neuer Generaldirektor oder eine neue Generaldirektorin der WTO im Amt sein, ist es nicht unwahrscheinlich, dass in Genf wieder ein konstruktiverer Geist der Zusammenarbeit entsteht. Es kommt darauf an, wer am Ende das Vertrauen der Mitglieder erwirbt, um nach einem handelspolitisch heißen Sommer nach Genf zu ziehen. Dann wäre es Zeit für die WTO-Mitglieder, um nochmals grundsätzlich über die gemeinsamen Interessen an dieser einzigartigen Organisation zu sprechen – realistisch, aber auch zukunftsgerichtet.