Herr Lang, das Vereinigte Königreich beantragt den Brexit, Nationalisten und Extremisten kritisieren Europa. Politisch scheint es die europäische Idee immer schwerer zu haben. Wie sehen Sie diesen Trend?
Den Eindruck könnte man haben, aber die Zustimmung zur EU wächst. Laut Bertelsmann-Stiftung liegt sie in Deutschland bei knapp 70 Prozent. Ich sage das, ohne diese Herausforderungen zu unterschätzen. Auf dem ganzen Kontinent gibt es mittlerweile Demonstrationen für Europa – in Frankfurt, Berlin, Paris und vor allem in London. Bei den jüngsten Wahlen in den Niederlanden blieb die europafeindliche Partei weit unter ihren Erwartungen. Sowohl Kanzlerin Angela Merkel wie ihr sozialdemokratischer Herausforderer Martin Schulz gelten als überzeugte Europäer. Das sind die Fakten, die mich zuversichtlich stimmen. Ich bin auch davon überzeugt, dass wir die geopolitischen und internen Herausforderungen gemeinsam anzugehen haben. Nur Europa ist ein Global Player mit internationalem Gewicht – seine Einzelstaaten, auch Deutschland als größte Volkswirtschaft, sind es nicht.
Was bedeutet Europa für die Unternehmen auf unserem Kontinent?
Für die Unternehmen, aber auch für die Bevölkerung insgesamt ist Europa der Garant für Wohlstand und Lebensqualität. Die deutsche Industrie ist in ganz Europa zuhause. Gut 40 Prozent unserer Direktinvestitionen landen in der EU. Umgekehrt stammen nicht weniger als 78 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen in unserem Land aus EU-Ländern. Fast 60 Prozent unserer Ausfuhren gehen dorthin, während 16 andere EU-Länder im vorigen Jahr den größten Teil ihrer Exporte nach Deutschland schickten. Die Wertschöpfungsketten unserer Unternehmen funktionieren reibungslos grenzüberschreitend. Es ist selbstverständlich, dass ein ausgezeichnetes Auto made in Germany zahllose Teile aus Frankreich, Polen oder Tschechien enthält. Insgesamt kommen rund drei Viertel aller Vorleistungsimporte in EU-Staaten aus Ländern der EU. Nirgendwo sonst auf der Welt ist dieser intraregionale Anteil so hoch.
Nun hat die Europäische Kommission kürzlich ein Weißbuch zur Zukunft der EU vorgelegt. Ihre Meinung?
Den europäischen Bürger interessiert vor allem, wie es in seinem persönlichen Leben weitergeht. Das heißt: Was kostet Energie? Habe ich schnelles Internet? Kann ich Waren und Dienstleistungen günstig erwerben? Kann ich grenzenlos reisen? Wir müssen sichtbare politische Resultate in Europa schaffen. Das ist wichtiger als eine abstrakte Diskussion über verschiedene europäische Kooperationsmodelle.
Und wie geht es jetzt konkret weiter?
Positiv ist die Absicht der Kommission, Vorschläge zu den fünf größten Herausforderungen Europas in den nächsten Wochen vorzulegen: innere Sicherheit, Wohlstand wahren, unser Sozialmodell stabilisieren, Europa als Global Player entwickeln und zur Verteidigungsgemeinschaft auszubauen. An diesen Diskussionen beteiligen wir uns gern. Das heißt konkret: Wir benötigen einen digitalen Binnenmarkt und eine grenzüberschreitende Infrastruktur – und vor allem mehr Innovation, um unsere Industrie wettbewerbsfähig zu halten. Nur mit weiteren Handels- und Investitionsabkommen werden unsere Unternehmen ausreichend in Europa investieren und hier neue Arbeitsplätze schaffen. Dies gelingt mit TTIP und Ceta, Jefta mit Japan und Mercosur mit Lateinamerika.
Für wie realistisch halten Sie mehr Europa aktuell?
Europa gibt es nicht zum Nulltarif, sondern nur unter Einsatz von politischem Kapital, finanziellen Ressourcen, rechtlichen Verpflichtungen. Die Geschichte lehrt, dass sich die Investition in mehr Gemeinsamkeit bisher gelohnt hat. Viel spricht dafür, dass es diese Vorteile auch in Zukunft gibt. Es liegt an den 27 Nationalstaaten der EU, uns Europäern diesen Gewinn zu sichern.